Anni Mittelstädt
Die „Trümmerfrau“ Anni Mittelstädt (1900–1987) war eine der vielen tausend Frauen Berlins, die nach Kriegsende 1945 oft mit bloßen Händen anfingen, Wege für ein neues Leben zu ebnen.
Anni Mittelstädt, am 24. Mai 1900 in Fulda geboren, ist spätestens seit 1934 in Berlin ansässig. Mit ihrem Mann, einem Oberpostsekretär, führt sie zusammen mit ihren Kindern ein bürgerliches Leben, das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs abgesichert ist. Nach dem Krieg ist sie mit ihrem 10-jährigen Sohn allein, ein älterer Sohn ist gefallen, ihr Mann stirbt im September 1945 an einem Gehirnschlag. Anni Mittelstädt muss nicht nur ihren Mann zu Grabe tragen, sondern künftig den Lebensunterhalt allein bestreiten. Ihr kleiner Sohn kann nach Meinung des Arztes nur überleben, wenn er mehr gehaltvolles und gutes Essen bekommt. Sie geht deshalb enttrümmern. Sie kennt keine Alternative, nur so bekommt sie die bekehrte Lebensmittelkarte II, die mehr Fett und Fleisch verspicht, und kann ihren Sohn und sich selbst ernähren.
Anni Mittelstädt ist 45 Jahre alt, als sie dem Aufruf „Weibliche Bauhilfsarbeiter gesucht!“ freiwillig folgt. Denn Trümmerarbeit sei kein Zwang, darauf legt sie Wert. Im Krieg wurde sie dienstverpflichtet, zum Montieren von Bolzen und zum Bauen von Tellerminen gezwungen. Sieben Jahre lang enttrümmert Anni Mittelstädt bei jedem Wetter. Anni Mittelstädt arbeitet bei einer Firma in der Manteuffelstraße. Der Arbeitsort ist eine Ruine an der Dorfstraße, Ecke Tempelhofer Damm. Das Erste, was sie im Schutt findet, sind Liebesbriefe.
Ihr Arbeitsalltag beginnt von nun an um fünf Uhr morgens, wenn sie sich auf den Weg macht, um pünktlich um sieben Uhr vor Ort zu sein. Oft nimmt sie die Straßenbahn, wenn diese nicht kommt, geht sie zu Fuß. Sie arbeitet sechs Tage in der Woche, jeden Tag acht Stunden, die halbe Stunde Mittags- und die Viertelstunde Frühstückspause nicht eingerechnet. Während der Trümmerarbeit ist sie „Rottenführerin“, hat zwölf Frauen und drei Loren unter sich.
Die Frauen nennen sich beim Vornamen, immer in Verbindung mit dem „Sie“. Alle leisten schwere körperliche Arbeit: schleppen und sortieren Steine, trennen Eisenträger, Balken und Schutt und räumen ab. Die jüngeren schieben vor allem Loren, ältere Frauen befreien Steine von Mörtelresten. Dann werden die Steine zu Säulen aufgeschichtet, vier Säulen bestehen aus tausend Steinen. Die intakten Steine werden zum Neuaufbau verwendet, halbe und Schutt werden abtransportiert und anders weitergenutzt.
„…das verzeih ich den Berlinern heute noch nicht, wir waren bloß die Naziweiber, mit Steinen haben sie nach uns geschmissen. […] Was meinen Sie, was ich für gemeine, ordinäre Briefe gekriegt habe. Na weil die ersten, die wegräumen mussten, da haben die Russen all die Frauen von Parteigenossen geholt. Und dann waren wir auch die Naziweiber.“
Arbeit unter Lebensgefahr
Die Enttrümmerungsarbeit ist schwer und birgt Einsturzgefahren. Auch Blindgänger gefährden das Leben bei der Arbeit. Nahezu täglich wird jemand verletzt. „Da wurde einfach oben am Haus ein Drahtseil um irgendetwas geschlungen, und wir mussten uns unten dranhängen. Da kam dann manchmal auch etwas mehr mit ‚runter.‘“ Öffentlich wird von 22 Frauen gesprochen, die ums Leben kommen, mehr als 900 ziehen sich zum teil schwere Verletzungen zu. Anni Mittelstädt hat Glück, sie bricht sich einen Finger und verstaucht sich ein andermal einen Fuß. Erst im August 1946 werden die ersten sicherheitstechnischen Richtlinien für Abbruch- und Enttrümmerungsarbeiten zum Schutz der „Trümmerfrauen und der Berliner“ überhaupt erlassen.
Trümmerfrau
Woher stammt der Begriff?
Der Begriff „Trümmerfrau“ entsteht im Nachkriegsalltag Berlins. In den ersten Monaten nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges wird dieser Begriff weder in den Medien benutzt, noch in Akten vermerkt. Wie er entstanden ist, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Unter anderem wird er der Berliner Politikerin Louise Schroeder zugschrieben, die zu den Trümmerfrauen ein nahes Verhältnis hat. Gebräuchlich wird er ab der zweiten Hälfte des Jahres 1946.
Anni Mittelstädt arbeitet am Tempelhofer Damm (Tempelhof), dem Blumeshof am Landwehrkanal (Tiergarten) und am Flakbunker im Britzer Stadtgut (Neukölln). Auch in den Ostbezirken der Stadt enttrümmert sie. Hier erlebt sie während ihrer Arbeit die Teilung Berlins am Neuen Stadthaus (Mitte) mit. In dieser Zeit lernen sie und die anderen Frauen auch Louise Schroeder kennen. Die SPD-Politikerin steigt oft aus dem Auto und spricht mit ihnen, so erinnern sich die Frauen.
Alter und Ehrung
Bis 1952 bleibt Anni Mittelstädt in der Enttrümmerungsarbeit tätig, dann legt sie Spitzhacke und Schaufel weg. Sie ist 52 Jahre alt und wird weiter schwere Arbeit verrichten, nun als Aushilfe auf einem Kohlenplatz. Die Folge wird eine kaputte Wirbelsäule sein; im hohen Alter kann sie deshalb nur gebückt und langsam gehen. Ihre 600-Mark-Rente reicht dann gerade für eine Ein-Zimmer-Wohnung in der Eisackstraße in Schöneberg. Sie hofft, dass ihr wenigstens noch ein Erziehungsjahr angerechnet wird, so dass sie noch über etwas mehr Geld verfügen könnte. Doch das geschieht nicht. Aber für ihre Verdienste erhält sie 1971 das Bundesverdienstkreuz am Bande, auch weil sie 1965 den Klub der Berliner Trümmerfrauen initiiert hat.
87-jährig stirbt sie nach einer längeren Krankheit am 5. September 1987. Fünf Tage später, am 10. September, wird sie auf dem Friedhof am Fürstenbrunner Weg in Westend (Bezirk Charlottenburg) beigesetzt. Auf den Tag genau sind es 42 Jahre, dass sie zum ersten Mal in Berlin enttrümmern ging. Die Zeitungen West-Berlins sprechen von „Berlins legendärer Trümmerfrau“, von „Berlins berühmtester Trümmerfrau“. Nur noch 30 Weggefährtinnen nehmen von ihr Abschied.
Eine ausführliche Biografie gibt es von Anni Mittelstädt nicht, nicht einmal eine Kurzbiografie ist überliefert, die genaue Daten ihres Lebens oder über ihre Lebensverhältnisse gibt. Ihren späteren Bekanntheitsgrad verdankt sie in erster Linie einem Aufruf der BILD-Zeitung: „Wir suchen Trümmerfrauen!“ von 1964.
„Ich bin eine von vielen. 40.000 andere Berlinerinnen haben damals genauso wie ich mit der Nase im Dreck gelegen.“
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Katalog zur Ausstellung „Berlin – Stadt der Frauen“ im Museum Ephraim-Palais, 2016 erschienen unter dem Titel „Berlin – Stadt der Frauen. Couragiert und feminin. 20 außergewöhnliche Biografien“ im Verlag M, Stadtmuseum Berlin GmbH.