Am 20. Mai 1872 wird Albert Steinrück in Wetterburg geboren, einem Dorf im damals von Preußen verwalteten, heute zu Hessen gehörenden Fürstentum Waldeck. Bei seinem Vater, einem Kaufmann, stoßen seine frühen künstlerischen Neigungen auf wenig Gegenliebe. Albert will Maler werden, und so bewirbt er sich mit achtzehn Jahren ohne Erlaubnis der Eltern zum Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf, wo er 1890 aufgenommen wird. Doch schon nach einem Jahr gibt er das Kunststudium auf und versucht, als Dekorationsmaler am Theater und als Schauspieler Geld zu verdienen. 1927 erzählt er rückblickend im Berliner Tageblatt: „Da ging ich aufs Theater, ohne jedes Interesse. Mein Interesse für Menschengestaltung ist mit den Jahren beträchtlich gestiegen – der Drang zu malen ist mir immer geblieben.“
Trotz des ungewöhnlichen Beginns seiner Karriere schafft es der Autodidakt innerhalb von zehn Jahren, nach Berlin und von dort auf die großen deutschen Bühnen zu gelangen. Ab 1901 spielt Albert Steinrück am Schiller-Theater Berlin. Seine Bühnengestalten in den Dramen von Henrik Ibsen (1828 – 1906), August Strindberg (1849 – 1912) und Gerhart Hauptmann (1862 – 1946) hinterlassen bei den Zuschauer:innen einen starken Eindruck. Theaterkritiker Julius Bab (1880 – 1955) erinnert sich: „[…] In seiner Berliner Schillertheaterzeit hat Steinrück einen Pfarrer Rosmer von erlesenster seelischer Zartheit, einen Hauptmannschen Kollegen Crampton im Schluchzen und Lachen gleich hinreißend gespielt […]“
Beim Publikum beliebt, gehört Albert Steinrück vor dem Ersten Weltkrieg zu den Theaterkünstler:innen, die nicht nur zahlreiche Rollen in Klassikerinszenierungen verkörperten, sondern durch ihr Talent auch die neuen Autor:innen auf den deutschen Bühnen durchsetzten. Er brilliert als Edgar neben Tilla Durieux (1880 – 1971) in Strindbergs „Totentanz“ und verkörperte 1913 den Woyzeck in der Uraufführung von Georg Büchners (1813 – 1837) gleichnamigem Drama. In dieser Rolle überzeugt er auch das Publikum im Berliner Lessing-Theater, und als Henry Higgins wird er in der Uraufführung von George Bernard Shaws (1856 – 1950) „Pygmalion“ gefeiert. „Ganze Erfüllung bot der famose Steinrück. Mit breit gepinselter Gefühlsrauheit gab er den kratzbürstigen Professor…“ schwärmt der später im Ghetto von Łódź ums Leben gekommene Theaterkritiker Emil Faktor (1876 – 1942) 1913 im Berliner Börsen-Courier.
Zwischen Bühne und Leinwand
Seine erste Ehefrau, die Schauspielerin Elisabeth Gussmann (1885 – 1920), eine Schwester der Ehefrau des Schriftstellers Arthur Schnitzler (1862 – 1931), lernt Steinrück am Schiller-Theater kennen. Mit seinem Schwager verbindet ihn zeitlebens eine enge Freundschaft, die auch nach dem frühen Tod Elisabeths hält. Als sich Steinrück in die 25 Jahre jüngere Lissi Sohn-Rethel (1897 – 1993) verliebt, notiert Arthur Schnitzler in sein Tagebuch: „Lizie, die neue Gattin Alberts; sehr jung und anmutig. Sie spricht von Alberts ewiger Jugend“.Nach Jahren am Hof- und Residenztheater München kehrt Steinrück 1921 nach Berlin zurück und lässt sich mit Lissi im Stadtteil Zehlendorf nieder. Ohne feste vertragliche Bindung spielt er an verschiedenen Berliner Bühnen: der Tribüne, dem Deutschen Theater, dem Lessing-Theater, der Volksbühne und dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Dazu kommen häufige Gastspiele in Zürich, Hamburg, Frankfurt am Main und Wien sowie zunehmend auch Filmaufnahmen. In kurzer Zeit macht sich Steinrück einen Namen als gefragter Stummfilm-Protagonist. Ob als Rabbi Löw in „Der Golem, wie er in die Welt kam“ oder als Friedrich Wilhelm der I. in „Fridericus Rex“: Seine mimische Kraft und Präsenz überzeugt in mehr als 90 Filmen.
Es ist ein Schauspielerleben der Extreme, zwischen Theater- und Filmarbeit, mit langen Theaterproben und Gastspielen, unterbrochen von nächtlichen Streifzügen durch Weinstuben, von Trinkgelagen und Gesprächen über die Kunst und das Leben. Den Ausgleich zu diesem ruhelosen Leben als Bohemien liefern ihm Malerei, Reisen, Wanderungen und die Zeit mit der wachsenden Familie.
In den expressionistischen Aufführungen von Leopold Jessner (1899 – 1946) und Jürgen Fehling (1885 – 1968) am Schauspielhaus feiert Steinrück große Erfolge mit den Dramen von Ernst Barlach (1870 – 1938) und Arnolt Bronnen (1895 – 1959). Häufig steht er neben seinem Freund Heinrich George (1893 – 1946) auf der Bühne.
Zunächst im Schauspielhaus und nach 1925 vor allem in der Volksbühne am Bülowplatz. Gemeinsam mit George arbeitet er auch bei den Heidelberger Festspielen im Sommer dieses Jahres. Die intensive Zusammenarbeit mit dem Regisseur Erwin Piscator (1893 – 1966) findet in der Uraufführung von Ehm Welks (1884 – 1966) „Gewitter über Gottland“ ihren Höhepunkt. Danach ist er wieder in der Schumannstraße im Deutschen Theater und den Kammerspielen in mehreren Inszenierungen zu sehen. Eine seiner letzten Rollen ist der Coste in Georg Kaisers (1878 – 1945) „Oktobertag“. In dieser Rolle wird er für die Galerie des Deutschen Theaters portraitiert.
Sternstunde des Theaters
Kurz vor der Premiere seiner letzten Filme „Asphalt“ und „Fräulein Else“ mit Elisabeth Bergner (1897 – 1986) stirbt Steinrück am 11. Februar 1929 völlig unerwartet. „Bitte einen Moment für Albert Steinrück“, fordert Alexander Granach (1890 – 1945) nach dem plötzlichen Tod seines berühmten Kollegen. Auf Initiative seines Freundes Heinrich George findet am 28. März 1929 eine Gedächtnisfeier für Albert Steinrück im Schauspielhaus statt. Spontan organisiert George für die mittellos zurückgebliebene Familie eine Benefizaufführung von bisher nicht gekanntem Glanz. Bei dem gesellschaftlichen Ereignis stehen nahezu alle bekannten Schauspieler:innen Berlins in einer einmaligen Nachtvorstellung auf der Bühne am Gendarmenmarkt.
Nachdem das festlich gekleidete Publikum um 23 Uhr die Plätze eingenommen hat, eröffnet der Schriftsteller Heinrich Mann den Abend mit Gedenkworten an seinen Freund Steinrück. Dann hebt sich der Vorhang zu Leopold Jessners Inszenierung des „Marquis von Keith“. Werner Krauss als Konsul Casimir steht neben Carola Neher als dessen Sohn Hermann, Tilla Durieux als Gräfin Werdenfels und Heinrich George als Marquis auf der Bühne. Rosa Valetti, Käthe Dorsch, Fritz Kortner, Rudolf Forster, Veidt Harlan und Kurt Gerron spielen mit 26 weiteren hochkarätigen Akteur:innen in den Nebenrollen.
Mit dem Einzug der Gäste im dritten Akt, bei dem hinter Else Heims und Paul Wegener die gesamte schauspielerische Prominenz über die Bühne flaniert, ist der Höhepunkt erreicht. In den Bühnendekorationen des Salons sind zwei Steinrück-Portraits von Karl Hofer und Alfred Sohn-Rethel angebracht, und die Gemälde erwecken den Eindruck, als sei der zu Ehrende an diesem unvergesslichen Abend selbst zugegen. Im Namen der Beteiligten dankt der greise Arthur Kraußneck zwischen Marlene Dietrich, Asta Nielsen, Henny Porten und Tilly Wedekind dem Publikum für die Ehrung des toten Kollegen.
Unterstützt durch einen Ehrenausschuss aus 34 Persönlichkeiten der Berliner Kultur – darunter Albert Einstein, Ludwig Katzenellenbogen, Max Liebermann, Max Reinhardt, Bruno Walter und Reichstagspräsident Paul Löbe –, ist es den über 100 Künstler:innen gemeinsam gelungen, mehr als 45.000 Reichsmark durch den Kartenverkauf zu erzielen und dabei eine „Sternstunde des deutschen Theaters“ zu schaffen. Zugleich markiert der Abend den Abschied von einer Theater-Ära. Nie wieder finden sich so viele bekannte Schauspieler auf einer Bühne zusammen. Nur wenige Jahre später trennen sich die Wege der Künstler:innen endgültig. Während viele nach der Machtergreifung Hitlers fliehen müssen, setzen andere ihre Karriere in den nationalsozialistisch ausgerichteten Theatern fort.
Erinnerung an einen Großen
Heute, fast achtzig Jahre nach seinem Tod, ist Albert Steinrück im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr so verankert wie etwa sein Schauspielerkollege Heinrich George. Doch sein Andenken wird bewahrt. Die Stadt Berlin hat mit dem Steinrückweg in Wilmersdorf nicht nur eine Straße nach dem Schauspieler benannt, sondern pflegt auch seine Ehrengrabstelle auf dem Friedhof Zehlendorf. Dort sind die beiden großen Schauspieler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Heinrich George und Albert Steinrück, wieder vereint.Schenkung
Mit „Das Leben ist eine Rutschbahn…“ liegt eine eine umfassende Biografie über Albert Steinrück vor, dazu eine Beschreibung der Gedächtnisfeier unter dem Titel „Eine Sternstunde des Deutschen Theaters“ – beide geschrieben von der Theaterwissenschaftlerin Margret Heymann. Das Stadtmuseum Berlin erinnerte im Rahmen der Sonderausstellung „Tanz auf dem Vulkan – Das Berlin der Zwanziger Jahre im Spiegel der Künste“ (2015/16) an die Gedenkfeier zu Steinrücks Ehren von 1929.
Die Gemälde, die im Rahmen dieser Abschiedsgala auf der Theaterbühne zu sehen waren, sind heute Teil der Sammlung des Stadtmuseums Berlin. Anlässlich der Schenkung des Nachlasses von Albert Steinrück an das Stadtmuseum Berlin fand am 4. Mai 2016 eine Lesung im Deutschen Theater statt.