Blei ist eines der vielseitigsten, aber auch gefährlichsten Metalle. Da es sehr weich ist und bereits bei 327 Grad Celsius schmilzt, lässt es sich sehr gut verarbeiten. Schon seit Jahrtausenden wird Blei deshalb zur Herstellung vielfältiger Erzeugnisse genutzt: für Dächer, Wasserleitungen, alltägliche Gebrauchsgegenstände, für Spielzeug, Farben, Munition und bis ins 19. Jahrhundert als „Bleizucker“ sogar zum Süßen von Speisen und Getränken. Blei schützt zudem vor Röntgenstrahlen und ist bis heute ein unverzichtbarer Rohstoff in der chemischen Industrie, etwa bei der Produktion von Batterien.
Dennoch weiß man schon lange, dass Blei giftig ist. Es kann unter anderem die Fortpflanzungsfähigkeit und das Nervensystem schädigen, Krebs verursachen und zum Tod durch Vergiftung führen. Bleifreier Kraftstoff zählt zu den jüngsten Erzeugnissen, die der Gesundheitsgefahr durch Blei begegnen sollen. Vergiftungen durch den Gebrauch bleihaltiger Alltags-Erzeugnisse wie Geschirr oder Schminke veranlassten jedoch schon im 19. Jahrhundert kluge und geschäftstüchtige Berliner Unternehmer, bleifreie Alternativen zu erfinden. Sie gelangten damit zu Weltruhm.
Das bleifreie Porzellan der Königlichen Gesundheitsgeschirrmanufaktur
„Selbst in den unteren Volksklassen kauft man Gesundheitsgeschirr.“ Aus diesem Satz des preußischen Oberfinanzrates C. W. Ferber aus dem Jahr 1832 sprechen Unverständnis und Verwunderung. Auch heute, 150 Jahre nach der Schließung der Königlichen Gesundheitsgeschirrmanufaktur Berlin (KGM), verwundert Begriff „Gesundheitsgeschirr“ noch immer. Was verbirgt sich dahinter?
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts waren die schädlichen Folgen des ständigen Kontakts mit Blei bekannt – etwa als Bestandteil von Gebrauchsgegenständen wie Geschirr, wo es in den Glasuren enthalten war. In Frankreich wurden zu dieser Zeit bereits Porzellane mit bleifreier Glasur unter dem Begriff „Hygiocerames“ produziert.
Die Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin (KPM Berlin), die König Friedrich II. im Jahr 1763 von dem Berliner Unternehmer Johann Ernst Gotzkowsky (1710 – 1775) erworben hatte, entwickelte eine neue Porzellanmasse mit einem geringerem Anteil der teuren Kaolinerde. Dadurch wurden nicht nur kostspielige Rohstoffe eingespart. Das Porzellan konnte auch bei niedrigeren Temperaturen gebrannt und der Platz in den Brennöfen optimal ausgenutzt werden. Dies bedeutete eine bessere Auslastung der Brennöfen in der Manufaktur und somit eine höhere Wirtschaftlichkeit. Die mit dieser geänderten Masse hergestellten Produkte wurden nun bleifrei glasiert.
Der Durchbruch des Gesundheitsgeschirrs
Neben der Herstellung einfacher Porzellane zu Apothekengefäßen, Spucknäpfen Töpfen und Kindergeschirr stellte sich der Verkauf von Pfeifenköpfen mit kleinen Sprüchen oder galanten Szenen als Renner heraus. Um die große Nachfrage zu befriedigen, lagerte die KPM Berlin die KGM als Schwesterfirma auf ein neues Grundstück westlich des Berliner Tiergartens an der Spree aus. Die Manufaktur mit eigenständigen Direktoren nahm am 1. Januar 1818 die Herstellung der Porzellane mit bleifreier Glasur auf.
Höhen und Tiefen
Politische Ereignisse wie die Napoleonischen Kriege, die Märzrevolution und einander ablösende, unterschiedlich ambitionierte Direktoren bescherten der Manufaktur einen schwankenden Absatz. Es ist der Cleverness und der Courage des KPM-Direktors Friedrich Philipp Rosenstiel (1754 – 1832) zu verdanken, dass das Unternehmen nach enormer Ausbeutung in französischer Besatzungszeit und zwischenzeitlicher Konkurrenz durch französisches Porzellan nach Abzug der Napoleonischen Truppen fortbestehen und die Produktion wieder steigern konnte.
Vor diesem Hintergrund blieb der KPM Berlin und der KGM nichts weiter übrig, als die gegenseitige Beschränkung ihrer Produktpaletten aufzuheben, um die eigene Bandbreite der Porzellane zu erweitern. So stellte die KPM Berlin nun auch Apothekengefäße und Laborporzellane her, während die KGM einen Teil der zu jener Zeit heiß begehrten Widmungs- und Freundschaftstassen übernahm, die man zu Hochzeiten, Jubiläen, Kindstaufen und anderen festlichen Anlässen verschenkte.
Bemalt wurde das Porzellan überwiegend in Hausmalerei. Entgegen weit verbreiteten Vermutungen verfügte jedoch auch die KGM über eine eigene Manufakturmalerei. Mit dem unten abgebildeten Tabakskasten aus dem Bestand des Stadtmuseums gratulierte deren Belegschaft dem damaligen Direktor F. W. Müller am 15. Februar 1838 zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum.
Trotz Erfolg: das Aus
Obwohl das Unternehmen aufgrund des einsetzenden Porzellanbooms schwarze Zahlen schrieb, bot das übergeordnete Ministerium die Manufaktur 1851 zum Verkauf an, was an unzureichenden Angeboten scheiterte. Die KGM erweiterte in der Folge ihr Produktangebot um künstlerische Objekte, z.B. Madonnen und andere Kleinplastiken. Mit zunehmendem technischem Fortschritt brachte die KGM außerdem zwei Innovationen auf den Markt: Gasretorten für den Laborgebrauch und Telegrafenisolatoren für das neue Kommunikationsmedium der Telegrafie. Die Nachfrage an diesen technischen Porzellanen war so groß, dass die Produktionskapazitäten der KGM nicht ausreichten. Ein Teil der Aufträge ging deshalb an die KPM Berlin und an die 1853 in Moabit niedergelassene private Porzellanmanufaktur Carl Schomburg und Sohn.Trotz der weiterhin guten Auftragslage bot das Ministerium die Manufaktur ein weiteres Mal zum Verkauf an – trotz höherer Angebote erneut erfolglos. Sie blieb unverkauft und wurde am 1. April 1866 stillgelegt. Für die 129 Arbeiter und sechs Angestellten bedeutete dies das Aus. Auf dem attraktiven Grundstück der KGM-Manufaktur, im westlichen Teil des Tiergartens, fand die KPM Berlin ihren neuen Standort, an dem sie bis heute beheimatet ist.
Damit war auch die Zeit des bleifreien Gesundheitsgeschirrs vorbei. Es verschwand vom Markt, die Marken erloschen und Geschirr wurde für lange Zeit erneut bleihaltig glasiert. Erst in jüngster Zeit ist Blei als Zusatzstoff von Geschirr und anderen Gebrauchsgegenständen endgültig zum Auslaufmodell geworden: Mit der Bedarfsgegenständeverordnung von 1998 erließ der Gesetzgeber strenge Regeln dafür, wieviel Blei aus Geschirr in die Nahrung übergehen darf. So waren die bleifreien Berliner Produkte ihrer Zeit weit voraus.
Die bleifreie Schminke des Ludwig Leichner
Heute ist es selbstverständlich, dass Kosmetikprodukte frei von giftigen Substanzen wie Bleiverbindungen sind. Doch das war nicht immer so. Erst in der Kaiserzeit erfand ein vielfältig talentierter Berliner bleifreie Kosmetikprodukte.
Für einen hellen Teint des Gesichtes sorgte bereits im antiken Griechenland Schminke mit Bleiweiß, einem aus Blei gewonnenen Farbpigment. Im 18. Jahrhundert erfreute sich die künstliche weiße Hautfarbe bei Adel und wohlhabenden Bürgern besonders großer Beliebtheit. Im Zuge der Aufklärung legte man in gehobenen Kreisen Wert auf Natürlichkeit. Im 19. Jahrhundert war deshalb nur noch in der sogenannten Halbwelt und am Theater starkes Schminken mit bleiweißhaltigem Puder üblich. Die giftige Schminke führte bei vielen Bühnenkünstlern zu Erkrankungen, nicht selten mit tödlichem Ausgang.
Die industrielle Schminkfabrikation Leichners gab vielen Menschen Arbeit und Lohn. So verlieh ihm die Preußische Regierung 1897 für sein gewerbliches Engagement den Titel eines Königlich Preußischen Kommerzienrates. Vor 1885 gab es keine gesetzlichen Regelungen zum Umgang mit giftigen Farben. Erst eine vom Reichskanzleramt einberufene Kommission, der auch Leichner angehörte, arbeitete ein entsprechendes Gesetz im Reichsgesundheitsministerium aus.
Prominentes Testimonial
Die spanische Opernsängerin Adelina Patti lobt in einer Anzeige von 1880 Leichners preisgekrönten Fettpuder: „Festsitzender Ball-, Salon- und Tagespuder macht die Haut zart und weiss ‚Ganz besonders ist der Leichner´sche Fettpuder wunderbar (merveilleuse). Ich bezeuge, dass ich nie einen besseren Puder gefunden habe und werde mich desselben immer mit Vergnügen bedienen.‘“ Als Dank für diese Werbung erhielt eine kühlende Hautpflege aus dem Hause Leichner den Namen „Patti Cold Créme“.Leidenschaftlich engagierte sich Leichner für die Kunst des Maskenbildners. Er gründete eine Schminkschule mitsamt Archiv und gab Bücher zum Thema heraus. In dem Leichner-Album 150 Charakterköpfe für die Bühne sind detaillierte Beschreibungen zur Herstellung von Masken für Rollen in Opern, Operetten und Sprechtheater enthalten. Seine Produkte wurden speziell für die Bedingungen auf einer Bühne im Theater und Freien oder für den Film entwickelt. In einer Ausgabe der Publikation Deutsche Industrie – Deutsche Kultur von 1900 wird Leichners Firma als „Theater-Parfümerie-Fabrik“ bezeichnet. Darin heißt es: „Eh´ unsre grossen Künstler vor das Publikum treten, um uns mit Poesie eines Schiller oder Shakespeare zu überwältigen, befassen sie sich in ihren Garderoben sehr eifrig mit L. Leichner und seinen Erzeugnissen. Wenn dann das Haus erfüllt ist von Rührung und Begeisterung, wenn zuletzt tosender Beifall sturmartig anwachsend hinauf rauscht zur Bühne, dann gehört ein Partikelchen dieses Erfolgs auch Leichner und seinen gesammelten Werken.“
Neubeginn der Traditionsmarke
Am 10. April 1912 verstarb der Künstler, Firmengründer und Mäzen in Berlin. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem St.-Annen-Friedhof in Dahlem. Im selben Jahr übernahm sein Sohn Dr. Siegfried Ludwig Leichner die Firma. Am 1. Mai 1945 brannte die Stammfabrik Schützenstraße 31 restlos nieder, ebenso wurden Teile der sieben über die Stadt verteilten Lager vernichtet.
Trotz dieser herben Verluste schaffte das Unternehmen nach dem Krieg einen Neuanfang. Der zuvor in Berlin-Mitte ansässige Betrieb wurde in dritter Generation in der Dahlemer Rheinbabenallee 9-15 fortgeführt. Über mehr als fünf Jahrzehnte etablierte sich die Firma Leichner wieder erfolgreich in der Kosmetikbranche und blieb bis 1998 in Familienbesitz. Am Paul-Lincke-Ufer bestand die Leichner Kosmetik GmbH bis zur Einstellung der Produktion im Jahr 2003. Die in Baden-Württemberg beheimatete POLYCO GmbH übernahm schließlich die Traditionsmarke und bietet bis heute Kosmetikprodukte unter dem Namen Leichner an.
Epilog: Wie die Weihnacht bleifrei wurde
Der festlich geschmückte Baum ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil der Berliner Weihnacht. Zum alljährlichen Christbaumschmuck gehörte lange Zeit das 1878 erfundene Lametta. Anfangs verwendete man Stanniol (ursprünglich eine Bleisilberlegierung, später Zinn). Der Bleianteil im Stanniol-Lametta bewirkte, dass es schwerer war und damit besser und glatter von den Zweigen hing. Nicht selten wurde „Bleilametta“ nach dem Fest vorsichtig wieder eingepackt und wenn nötig auch gebügelt, um damit im nächsten Jahr wieder den Baum zu schmücken.
Erst als man die schädliche Wirkung von Blei für Mensch und Umwelt erkannte, begann der Stern des Stanniol-Lamettas zu sinken. Stattdessen verwendete man seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumeist metallisierten Kunststoff (Mylar) und in der DDR auch Alufolie. Heute aus der Mode gekommen, endete 2015 die Produktion von Lametta in Deutschland. Nur beim traditionellen Bleigießen am Silvesterabend spielt das einst allgegenwärtige Metall heute noch eine – wenn auch bescheidene – Rolle.