Die Versöhnungskirche
Der Mauerbau am 13. August 1961 schnitt die Evangelische Versöhnungsgemeinde von ihrer Kirche in der Bernauer Straße ab. Viele Jahre stand die Versöhnungskirche als letztes Gebäude auf dem Grenzstreifen, der hier Ost-Berlin von West-Berlin trennte. Vier Jahre vor dem Mauerfall wurde das Symbol der geteilten Stadt auf Regierungsbeschluss der DDR gesprengt. Seit dem 9. November 2000 steht ein neuer Kirchenbau an seiner Stelle.
In den Jahren 1892 bis 1895 wurde die Versöhnungskirche aus rotem Backstein im neugotischen Stil auf dem nördlichen Teil des Sankt-Elisabeth-Kirchhofs erbaut. Entworfen hatte sie der sächsische Architekt Gotthilf Ludwig Möckel (1838–1915), von dem auch die zur gleichen Zeit in Friedrichshain errichtete Samariterkirche stammt. Mitten in einem belebten Gründerzeitviertel gelegen, das während der industriellen Revolution rasant gewachsen war, wurde die Versöhnungskirche zum Zentrum einer 20.000 Mitglieder zählenden Gemeinde. Als sich Berlin 1920 mit bis dahin freien Städten, Landgemeinden und Gutsbezirken zu Groß-Berlin zusammenschloss, wurde die Grenze zwischen den neu geschaffenen Stadtbezirken Mitte und Wedding entlang der Bernauer Straße gezogen. Die Gebäude auf der Südseite einschließlich der Versöhnungskirche gehörten nun zu Mitte, die Gebäude auf der Nordseite samt Straße und Gehwegen zu Wedding.
Vier-Sektoren-Stadt
Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endete am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg. Das besetzte Berlin wurde von den alliierten in einen französischen, einen britischen, einen US-amerikanischen und einen sowjetischen Sektor aufgeteilt, zwischen denen sich die Menschen zunächst freizügig bewegen konnten. Wedding gehörte nun zum französischen, Mitte zum sowjetischen Sektor.Der Wiederaufbau Berlins begann. Die bei alliierten Bombenangriffen am 22. und 23. November 1943 schwer beschädigte Versöhnungskirche wurde 1950 instandgesetzt. Gottesdienste, Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse fanden darin wieder statt, wenngleich die Gemeinde nur noch etwa 7.000 Mitglieder zählte. Doch je mehr sich die Sowjetunion und die westlichen Alliierten entfremdeten, desto mehr verschärfte sich auch in Berlin die politische Situation. Bis sie buchstäblich über Nacht eskalierte.
Mauerbau
Der 13. August 1961
In den zwölf Jahren nach Gründung der DDR verlassen rund 2 Millionen Menschen den östlichen deutschen Teilstaat. Allein im Juli 1961 fliehen 30.444 nach Westen. Und es werden immer mehr. Im August melden sich täglich bis zu 2.400 neue Flüchtlinge im West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde. Für die DDR wird dieser Bevölkerungsverlust ein existenzielles Problem. Am 4. August verordnet der Ost-Berliner Magistrat daher eine „Registrierungspflicht für Grenzgänger“. Am 11. August kündigt der stellvertretende DDR-Ministerpräsident Willi Stoph weitere „Schutzmaßnahmen gegen Menschenhändler, Abwerber und Saboteure“ an. Die Volkspolizei verschärft die Kontrollen auf den S-Bahnhöfen.
Um 2 Uhr nachts am 13. August 1961 sperren Volkspolizei, Nationale Volksarmee und Betriebskampfgruppen die Grenze zu West-Berlin. Der Bevölkerung Ost-Berlins und der DDR wird das Betreten untersagt, der direkte Zugverkehr wird eingestellt. Am Morgen beginnen Sicherheits- und Arbeitskräfte, an der Sektorengrenze Betonsperren, Stacheldrahtzäune und Mauern zu errichten. In der Bernauer Straße werden die Erdgeschosse entlang der südlichen Straßenseite und der Zugang zur Versöhnungskirche zugemauert.
Hinter dem Eisernen Vorhang
Die Versöhnungskirche lag nun hinter dem „eisernen Vorhang“, für die Gemeindemitglieder unzugänglich inmitten der Grenzbefestigung. Für deren Ausbau wurden die Häuser an der Südseite der Bernauer Straße nach und nach beseitigt. Nur die Versöhnungskirche blieb. Seit dem Mauerbau diente sie den Grenztruppen als Beobachtungsposten, auch Waffen und anderes Gerät wurden hier gelagert. Unter diesen Umständen war eine kirchliche Nutzung ausgeschlossen, daher errichtete die Versöhnungsgemeinde 1965 ein neues Gemeindezentrum mit Kirchsaal direkt gegeüber ihrer eingemauerten Kirche.Im Juni 1978 äußerte ein Ost-Berliner Stadtrat gegenüber einem Kirchenvertreter erstmals, dass die DDR daran interessiert sei, die immer noch in Gemeindebesitz befindliche Versöhnungskirche zu erwerben und abzureißen. Inmitten des weitgehend geräumten Grenzstreifens verstellte das Gebäude den DDR-Grenztruppen die Sicht.
Im März 1983 erhielt die Evangelische Kirche West-Berlins ein konkretes Angebot: Im Tausch für das Gebäude samt Grunstück sollte sie nicht nur die noch vorhandene Kirchenausstattung und einen Geldbetrag bekommen, sondern obendrein zwei Grundstücke anderenorts in Ost-Berlin für kirchliche Neubauvorhaben sowie die Zusage, diese zu genehmigen. So stimmte die Gemeinde dem Angebot zu. Anfang 1985 wurden die Glocken aus dem Turm der Versöhnungskirche geborgen. Nach nur 24-stündiger Ankündigungszeit folgte die Sprengung: Am 22. Januar 1985 fiel das Kirchenschiff, am 28. Januar der Turm.
Mauerfall
Der 9. November 1989
Im 40. Jahr ihres Bestehens steht die DDR vor dem Bankrott. Die staatlich zentral gesteuerte Planwirtschaft ist gescheitert. Politische Reformen bleiben aus. In der Bevölkerung wächst die Unzufriedenheit. Im Sommer 1989 fliehen erneut Zehntausende DDR-Staatsangehörige in die Bundesrepublik, zumeist über Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen. Selbst während der offiziellen Feiern zum 40. Jahrestag der Staatsgründung am 7. Oktober 1989 kommt es vielerorts in der DDR zu Protesten.
Auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz findet am 4. November die größte nicht staatlich gesteuerte Demonstration statt, die es in Deutschland je gegeben hat. Rund eine Million Menschen nehmen teil. Unter dem Druck der Ereignisse beschließt die DDR-Regierung Reise-Erleichterungen. Als ihr Inkrafttreten am Abend des 9. November irrtümlich als „unverzüglich“ bekannt gegeben wird, lösen Medienberichte darüber einen Ansturm auf die geschlossenen Grenzübergänge aus. Deren Polizeiposten sind unvorbereitet, die Wartenden enttäuscht und wütend, die Situation spitzt sich zu. Doch es bleibt friedlich: In der Nacht werden die Schlagbäume geöffnet, die Menschen strömen über die Grenze. Die Mauer ist gefallen.
Rückgabe und Neubau
Nach dem Mauerfall lag die Bernauer Straße wieder mitten in Berlin und mit ihr der ehemalige Standort der Versöhnungskirche. Am 13. Juni wurde die Ackerstraße wieder für den Verkehr geöffnet. Der Grenzstreifen verlor seine Funktion, bald war er nur noch eine innerstädtische Brache. 1995 erhielt die Evangelische Versöhnungsgemeinde das Grundstück ihrer ehemaligen Kirche zurück und zugleich den Auftrag, es wieder kirchlich zu nutzen. Schon bald fanden die geretteten Glocken der Versöhnungskirche hier ihren Platz. Anstelle der zerstörten Kirche sollte eine Kapelle neu entstehen.Die Kapelle der Versöhnung
Neubau am historischen Ort
Wo die Versöhnungskirche stand, wurde genau elf Jahre nach dem Mauerfall, am 9. November 2000, ein neues Gebäude für die Evangelische Versöhnungsgemeinde eingeweiht: die Kapelle der Versöhnung. Der Entwurf der Berliner Architekten Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth erregte wegen seiner Form und der Lehm-/Holz-Bauweise Aufsehen.
Die Kapelle ist das Zentrum der Evangelischen Versöhnungsgemeinde in Berlin-Wedding/Mitte und Bestandteil der Gedenkstätte Berliner Mauer. Sie erinnert an die Teilung Berlins und an die Zerstörung der Versöhnungskirche, deren Grundriss rund um die Kapelle auf dem Boden markiert ist.