Die Proben dauerten ein halbes Jahr, am Ende war die Deutsche Demokratische Republik Geschichte: Am 24. März 1990 feierte Regisseur Heiner Müller die Premiere seines Stückes „Hamlet/Maschine“ am Deutschen Theater in Berlin. In einer achtstündigen, mittlerweile legendären Aufführung ließ der Dramatiker und Dichter seinen Hamlet (gespielt von Ulrich Mühe) zwischen „einem Riss aus zwei Epochen“ untergehen, wie es Müller in einem Interview mit dem Intellektuellen Alexander Kluge einige Monate nach der Premiere beschreibt.
Müller, der am 4. November 1989 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz an der größten, staatlich nicht gelenkten Demonstration für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und gegen die herrschende Staatsgewalt als Redner teilnahm, hatte das Ende der DDR kommen sehen. Daran geglaubt hat er nicht. Denn trotz zeitweiligem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband – was einem Berufsverbot gleichkam – und weiteren Sanktionen in den 1960er und 1970er Jahren gegen ihn hielt Müller stets an den Werten und Ideen des Sozialismus fest.
Sein Status als literarisch versierter und weltweit anerkannter Theatermacher hatten ihm zuletzt Zugang zu zahlreichen Privilegien ermöglicht – etwa einem Dauervisum, mit dem er ab 1983 Reisen nach Westdeutschland, Brasilien oder in die USA unternehmen konnte.
Frühe Prägung
„Soll ich von mir reden Ich, wer von wem ist die Rede wenn von mir die Rede geht Ich wer ist das“, schrieb Heiner Müller 1981 in dem dramatischen Text „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“.1992 stellte er die Ich-Frage seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen“ voran.
Dies kam nicht von ungefähr: Die Suche nach einer Verortung des eigenen Ichs begleitete ihn sein Leben lang.
Am 9. Januar 1929 als Sohn eines Beamten und SAP-Politikers im sächsischen Eppendorf geboren, erfuhr Müller schon früh, was es bedeutet, in einem totalitären Regime zu leben: Der Vater wurde 1933 mit Machtergreifung der Nationalsozialisten in einem Lager interniert. Diese traumatische, familiäre Erfahrung verarbeitete Müller später in unterschiedlichen Stücken und Prosatexten.
Seine durch den Vater antifaschistisch geprägte Erziehung und die Lektüre von Friedrich Schiller, Ernst Jünger und Bertolt Brecht bestimmten bereits in jungen Jahren sein Menschenbild und seine politische Einstellung. 1944 wurde Müller mit nur 15 Jahren zum Reichsarbeitsdienst und anschließend zum Volkssturm einberufen. Er geriet 1945 in US-amerikanische Gefangenschaft, aus der er nach kurzer Zeit floh. Müller wurde von Soldaten der sowjetischen Armee aufgegriffen und freigelassen. In den ersten Nachkriegsjahren machte er sein Abitur.
Mit 18 Jahren trat Müller in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) und in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) ein. Es folgten eine Hilfstätigkeit in einer Bibliothek in Frankenberg (Sachsen), ein Schriftstellerlehrgang in Radebeul bei Dresden und die journalistische Tätigkeit als Literaturkritiker für die Zeitschrift „Sonntag“ und später für das Magazin „Neue deutsche Literatur“. Mittlerweile in Ost-Berlin lebend, begann Müller als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Deutschen Schriftstellerverband tätig zu werden.
Sein Vorhaben, für Bertolt Brecht zu arbeiten, sein Vorbild und damaliger künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles, gelang nicht: Zwei Mal wurde er beim Theater am Schiffbauerdamm vorstellig, zwei Mal wurde er abgelehnt. Doch Müller gab nicht auf: 1957 wurde an der Berliner Volksbühne sein erstes Stück aufgeführt. Es war der Start in eine von Skandalen und Kontroversen geprägte Theater- und Autoren-Karriere.
Unter Pseudonym
Müller wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Maxim-Gorki-Theater und arbeitete fortan als freischaffender Autor. Erste, kritische Stücke über die noch junge DDR entstanden: So beschrieb der damals 26-jährige Müller in „Die Lohndrücker“ (1958) die Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus und die Diskrepanz zwischen den Interessen der Arbeitenden und der SED-Parteiführung. Recherchegrundlage war der Besuch einer Großbaustelle in Sachsen mit seiner zweiten Ehefrau und Co-Autorin Inge Müller. 1959 wurde der Autor von der Akademie der Künste der DDR noch mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.
Aber bereits zwei Jahre später kam es zum Skandal: Müllers Komödie „Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande“, inspiriert von Motiven der Erzählung „Die Umsiedlerin“ von Anna Seghers, wurde zwar im Jahr des Mauerbaus, 1961, unter der Regie von B. K. Tragelehn aufgeführt, nach der Premiere aber verboten: Die offene Beschreibung der Probleme des Sozialismus und der Kollektivierung war dem SED-Regime ein Dorn im Auge. Müller wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Der Regisseur Tragelehn dagegen wurde in die Kohleproduktion strafversetzt. Unter dem Pseudonym Max Messer sicherte sich Müller durch das Schreiben von Kriminalromanen seinen Lebensunterhalt. Zeitlebens war Müller jedoch auf die finanzielle Unterstützung von Freund:innen und Bekannten angewiesen.
Erfolge außerhalb der DDR
Neun Jahre später arbeitete Müller wieder am Theater. Und zwar als Dramaturg an der Stätte, die ihn einst zwei Mal abgelehnt hatte: dem Berliner Ensemble. Sein Stück „Mauser“, das von Brechts „Maßnahme“ inspiriert ist, wurde in der DDR verboten. Dafür wurde es 1980 erstmals in Köln aufgeführt. Bis 1976 war Müller für das Berliner Ensemble tätig, dann wechselte er zur Volksbühne. Dort fanden das Regieteam Manfred Karge und Matthias Langhoff zum ersten Mal eine überzeugende Theatersprache für die von Montagen und Fragmenten bespickten Texte Müllers: Am 30. Oktober 1975 kam es zur Uraufführung der Szenenfolge „Die Schlacht“.
Trotz seines schwierigen Verhältnisses zum DDR-Regime, war Müller politisch aktiv: So gehörte er zu den Unterzeichnenden der Petition gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR. Obwohl Müller weiterhin mit kritischen, stilistisch überragenden und literarisch herausfordernden Stücken Furore machte – und damit gleichzeitig Begeisterungsstürme bei vielen DDR-Bürger:innen auslöste – waren die 1980er Jahre geprägt von zahlreichen, erfolgreichen Aufführungen in Westdeutschland und im außereuropäischen Ausland. Die DDR-Regierung ließ Müller gewähren. 1984 wurde Müller Mitglied der Akademie der Künste der DDR, er erhielt weitere Auszeichnungen. 1988 erfolgte die Wiederaufnahme in den Schriftstellerverband.
Nach der DDR
Der Fall der Mauer schien Heiner Müllers Erfolg keinen Abbruch zu tun. In den Wendejahren wurde Müller zum Präsidenten der Akademie der Künste Ost gewählt. Er heiratete die Fotografin Brigitte Maria Mayer, seine vierte Ehefrau. Mayer würde ihn später, auch fotografisch, durch seine Krebserkrankung begleiten. Ab 1992 leitete Müller das Berliner Ensemble. Seine letzte Inszenierung „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mit Martin Wuttke im Juni 1995 wurde ein jahrzehntelanger Theatererfolg. Müller gab nun zahlreiche Interviews, die von der Literaturforschung mittlerweile ebenfalls zum künstlerischen Repertoire des Autors gezählt werden. In seinen letzten Lebensjahren widmete Müller sich vermehrt der Lyrik. Die Uraufführung seines Stücks „Germania 3: Gespenster am toten Mann“ erlebte er nicht mehr.Heiner Müller starb am 30. Dezember 1995 im Alter von 66 Jahren an Krebs. Sein Grab befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.
Theatersammlung
Die Theatersammlung des Stadtmuseums Berlin bewahrt unter ihren mehr als 30.000 Objekten und zwei Millionen fotografischen Negativen zahlreiche Fotografien Heiner Müllers sowie eine Sammlung an Programmen, Plakaten, Entwürfen, Kostümen, Masken und Requisiten, die für seine Inszenierungen und unter seiner Regie entstanden sind und verwendet wurden.