Helga Goetze, 1992
© Helga-Goetze-Stiftung | Stiftung Stadtmuseum Berlin

Helga Goetze

Viele Berliner:innen erinnern sich noch heute an ihre provokativen Aktionen vor der Berliner Gedächtniskirche oder der TU Berlin: Helga Goetze (1922-2008) war Künstlerin, Schriftstellerin, Dichterin und politische Aktivistin. Ihr Lebensweg ist genauso vielfältig wie ihre künstlerische Praxis und außerdem von einem Dualismus geprägt: Eine Hausfrau, die erst spät zu sich selbst und zur Kunst fand und sich dennoch nie selbst als Künstlerin bezeichnete.

von Amelie Gappa

Das vielfältige und umfangreiche Werk, in dem sich Helga Goetze mit Themen wie Sexualität, Körperlichkeit und der Dekonstruktion traditioneller Geschlechterrollen auseinandersetzte und für eine bessere, friedliebendere Gesellschaft eintrat, umfasst mehr als 3.000 Gedichte, Zeichnungen, Malereien, Stickereien und Aktionen im öffentlichen Raum.

Kindheit und Jugend im Schatten des Krieges

Am 12. März 1922 in Magdeburg geboren, wächst Helga Sophia Goetze als neugieriges und wissbegieriges Kind mit ihrem Bruder Harald in der kleinbürgerlichen Familie Troch auf. Es ist eine Zeit, die von den Problemen, Katastrophen und politischen Veränderungen der Zwischenkriegszeit geprägt ist und bald von der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Zweiten Weltkrieg überschattet wird. Bereits als 11-Jährige begegnet Helga Goetze dem Mann, den sie 1942 heiraten wird und mit dem sie zwei Jahre später das erste Kind bekommt – Curt Goetze; sechs weitere Kinder werden folgen.

Ausbruch aus der Tradition

Helga Goetze verbringt die erste Hälfte ihres Lebens in einer Ehe mit klassischer Rollenverteilung: sie als Hausfrau und Mutter von sieben Kindern, während ihr Mann als Bankier arbeitet. Fotos aus den frühen 1970er Jahren zeigen Helga Goetze noch ordentlich frisiert und in schickem Kleid in der Küche. Erst mit Mitte vierzig bricht sie aus diesem traditionellen Konzept aus – als Schlüsselmoment nennt sie sexuelle Erfahrungen mit einem Mann namens Giovanni, den sie im Italien-Urlaub im September 1968 anlässlich ihrer Silberhochzeit auf Sizilien kennenlernt. Kurze Zeit später beginnt für Helga Goetze ein neuer Lebensabschnitt, der von weiblicher Selbstbestimmtheit sowie frei ausgelebter Sexualität geprägt ist und in dem sie auch zum Aktivismus und zur Kunst finden wird.

Neues Leben in Hamburg und Berlin

Nach der Trennung von ihrem Mann lebt und arbeitet Helga Goetze zunächst in Hamburg, wo sie 1972 ein Institut für Sexualinformation gründet. Von den eigenen vier Wänden zieht sie 1974 in eine WG, die freie Liebe predigt, knüpft Kontakte zur Kommune des Wiener Aktionskünstlers Otto Mühl (1925-2013) und engagiert sich aktiv im Hamburger Kulturzentrum „Fabrik“.  Erste Auftritte in Berlin ebnen ihren Weg in die damalige Mauerstadt. Mit ihrem Umzug 1978 beginnt Helga Goetze auch mit ihren fast täglichen „Mahnwachen zur sexuellen Befreiung der Frau“ vor der Technischen Universität Berlin oder der Berliner Gedächtniskirche und gründet nach ihrem Umzug von Kreuzberg nach Charlottenburg 1983 in ihrer Wohnung die „geni(t)ale Universität“.

Helga Goetze während einer ihrer Mahnwachen an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 1996.
© Johannes Hinkelammert

Botin der sexuellen Befreiung

Bei ihren Mahnwachen im öffentlichen Raum Berlins, die Helga Goetze 20 Jahre lang fast täglich durchführt, versucht sie die Passant:innen auf sich aufmerksam zu machen und zu Gesprächen über ihre Anliegen anzuregen. Sie macht unter anderem durch ihre provokanten Ausrufe, wie „Ficken ist Frieden!“ auf sich aufmerksam. Die Gesellschaft prangert auch heute noch insbesondere Frauen dafür an, vulgäres Vokabular zu benutzen und über Sex in der Öffentlichkeit zu sprechen. Die Künstlerin selbst betont keck, „ficken sei ein ganz normales Wort, es bedeute hin- und her bewegen“.

Durch solche Aussagen regt Goetze ihre Zuhörer:innen dazu an, ihre Reaktionen auf bestimmte Worte und Handlungen zu hinterfragen. Parallel zu ihren Aktionen entstehen zahlreiche Gedichte, Zeichnungen, Malereien sowie Stickereien, in denen die sich insbesondere mit der Dekonstruktion klassischer Rollenbilder oder gesellschaftlich tabuisierten Themen wie Sexualität und Körperlichkeit als Akt der Befreiung auseinandersetzt. Oft zeigen ihre Arbeiten paradiesähnliche Landschaften, in denen die Figuren vornehmlich mit einer Sache beschäftigt sind: Sex zu haben.

Damit visualisiert sie ihre utopische Vorstellung eines Zusammenlebens, das von Liebe und Lust geprägt ist und indem insgesamt ein friedliches und gemeinschaftliches Miteinander herrscht. Mit ihren Aktionen sowie dem Tragen ihrer bestickten Kleidung trägt sie ihre Botschaften in die Öffentlichkeit.

Radikal, provokant und endlich anerkannt

1973 löst Goetze mit ihrer Teilnahme an einer TV-Sendung mit dem Titel „Hausfrau sucht Kontakte“ einen Skandal aus, obwohl sie lediglich offen über ihre Sexualität spricht. Es folgen Schlagzeilen wie „Hausfrau der Nation“ oder „Deutschlands Supersau“. In Anspielung auf diese BILD-Schlagzeilen ist ihr erster Gedichtband „Hausfrau der Nation oder Deutschlands Supersau?“ (1973) benannt.

Auch in den 1980er Jahren sorgt sie durch Aufritte, wie in der ARD-Sendung „Arena“ zum Thema „Die neuen Nackten – eine neue Erkenntnis?“ (1982), für Aufsehen und provoziert medienwirksam die Diskussion.

Das Bild von Helga Goetze zu ihren Lebzeiten ist damit maßgeblich von der deutschen Presselandschaft geprägt, weshalb ihre aktivistische, aufklärerische sowie künstlerische Arbeit nur marginal wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Kritiker:innen neigen dazu, sie herabzusetzen, gelegentlich sogar zu pathologisieren. In den 1980ern existierten aber auch bereits positive Stimmen für Goetzes politischen Aktivismus, wie beispielsweise vom Regisseur Rosa von Praunheim (geb. 1942), der Interview-Sequenzen mit Goetze in seinem Film „Rote Liebe“ von 1982 verwendet. Praunheim bezeichnet sie auch damals schon als wichtige und radikale Vorreiterin, die etwas zum Thema freie Sexualität zu sagen habe.

Dies erkennt auch viele Jahre später Autorin Katja Lewina (geb. 1984) und befasst sich in ihrem Buch „Sie hat Bock“ (DuMont, 2020) mit Helga Goetze, um in ihre eigene Auseinandersetzung mit weiblicher Sexualität und Begehren einzuführen. Sie zieht Helga Goetze als Beispiel für eine Frau heran, die geradeheraus tabuisierte Themen in der Öffentlichkeit anspricht. „Danke Helga“, lässt die Autorin am Ende der Einleitung verlauten.

Neben ihren Mahnwachen im öffentlichen Raum Berlins lädt Helga Goetze in den 1990er Jahren regelmäßig zu ihrer Märchenstunde ein, in der sie ihre Gedichte vorträgt. Auch ist sie in weiteren Talkshows zu Gast. Im Jahr 2000 gründet sie gemeinsam mit Gleichgesinnten und Freund:innen den Verein Metropole Mutterstadt e.V., der sich dafür einsetzt, ihr Oeuvre zu bewahren, zu verwalten und bekannt zu machen. 2020 wird in der Stiftung Stadtmuseum Berlin die unselbstständige Helga-Goetze-Stiftung gegründet, die ihren bildnerischen Nachlass bewahrt. Dokumente wie Tagebücher, Briefe und Gedichte haben ihren Platz im Feministischen Archiv – FFBIZ gefunden.

Die Aktivistin und Künstlerin verstirbt am 29. Januar 2008 im Alter von 85 Jahren in Winsen (Luhe) und wird nicht mehr miterleben, wie ihre Arbeit immer mehr Anerkennung findet.

Filmtipps

Die Natur lassen wir draußen, die stört. Ein Dokumentarfilm über Helga Goetze von Uwe Cardaun, Klaus Dorn, Wolfgang Jost und Winfried Wallat. Eine Uwe Cardaun Produktion, Berlin 1980, 54 Minuten.

Sticken und Ficken. Ein Dokumentarfilm über Helga Goetze von Monika Anna Wojtyllo, 2003, 15 Minuten, 16mm, HFF Konrad Wolf.

Helga Goetze bei einer Performanz vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, aus der 13-teiligen Fotoserie von Thomas Marx über die Künstlerin, 1985/1986
© Stadtmuseum Berlin | Foto: Thomas Marx

Sammlung Online

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Über die Autorin

Amelie Gappa (geb. 1994) ist Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer und moderner Kunst. Die Auseinandersetzung mit dem Kunst- und Künstler:innen-Begriff sowie Positionen, die sich an der Schnittstelle zwischen Kunst, Design und Architektur befinden, stehen im Fokus ihrer Praxis. Bisher war Amelie Gappa für Institutionen wie den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, das Museum Ludwig, Köln und die Kunstmuseen Krefeld tätig. Aktuell arbeitet sie als freie Kuratorin (u.a. für den Kunstraum La Felce). Ehrenamtlich organisiert sie Events für die queer-feministische Initiative And She Was Like: BÄM!, die im Bereich Kunst und Design agiert.