Kurfürstendamm 29: Eine noble Adresse im Berliner Westen und ein repräsentativer Altbau. Errichtet 1896/97 von Architekt Ferdinand Döbler und in den 2010er Jahren stilsicher renoviert, schmückt ein liebevoll restauriertes Fresko aus den Erbauungsjahren das Foyer. Von hier aus gelangt man in einen hellen, luftigen Innenhof, der zu dem ebenfalls repräsentativen Seitenflügel führt. Schon verebben die Verkehrsgeräusche, und eine unerwartete Stille umfängt Besucherinnen und Besucher mitten in der Berliner City West. Nach scheinbar endlosem Treppenaufstieg (91 Stufen!) ist die vierte Etage und somit das Ziel erreicht: das Atelier der Berliner Künstlerin Jeanne Mammen.
Der Zeitzeuge Fritz Hellwag, Herausgeber des Kunstgewerbeblattes, beschrieb die beiden Schwestern, die er unmittelbar nach ihrer Ankunft in Berlin kennenlernte, so: Die eine, die „den Künstlernamen Folcardy angenommen hat, während die andere ihre Werke mit ihrem richtigen Namen Mammen zeichnet […] Fräulein Mammen ist romantischer veranlagt und neigt mehr zur malerischen Ausdrucksweise. Beide sind für die Illustrierung guter Bücher sehr befähigt.“ Dabei durften die Schwestern, die Gebrauchsgrafik anboten, bei der Wahl ihrer Lohnaufträge nicht wählerisch sein. Erst mit Zunahme der Verlagsaufträge – und dadurch kleinem, aber gesicherten Einkommen – sowie mithilfe einer väterlichen Bürgschaft waren die nunmehr 30- bzw. 32-Jährigen in der Lage, zum 1. April 1920 ihr eigenes Atelier im Gartenhaus Kurfürstendamm 29 zu mieten.
Weitere prominente Mieter im Hause „Ku’damm“ 29 waren der Schweizer Maler Karl Walser (1877–1943), Mitglied der am Kurfürstendamm beheimateten Kunstgruppierung „Berliner Secession“ – von der das Stadtmuseum Berlin einige Werke in seiner Sammlung bewahrt – sowie dessen Bruder, der Schriftsteller Robert Walser.
Das Atelier
Durchflutet von klarem Licht, das sich durch das große, nach Norden gelegene Atelierfenster seinen Weg bahnt, war Jeanne Mammens Zuhause zu allen Zeiten ein gesellschaftlicher Treffpunkt. Von Beginn bis Mitte der 1930er Jahre kamen neben Bildhauer Hans Uhlmann vor allem der Chemiker Kurt Wohl und seine Frau Grete, der Biochemiker Hans Gaffron und seine Frau Clara sowie der Genetiker und Biophysiker Max Delbrück mit seiner späteren Frau Manny regelmäßig zu Besuch.Die NS-Zeit bedeutete jedoch einen drastischen Schnitt. Nicht nur waren die jüdischen Freund:innen gezwungen zu emigrieren, auch Mimi entschloss sich 1937, gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin Berlin zu verlassen und sich in Teheran niederzulassen. Im Atelier wurde es einsam um Jeanne Mammen, auch beruflich fühlte sie sich zunehmend isoliert.
Das Atelier wurde zum Rückzugsort der Künstlerin und zum Schutzraum für die Kunstwerke, die Jeanne Mammen dort im Verborgenen schuf und die so gar nicht zur offiziellen NS-Kunstpolitik passen wollten. Beeindruckend sind rund 20 plastische Werke, die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind. Mit Titeln wie „Kopf mit Schatten“, „Hermaphrodit“, „Doppelprofil“ und „Doppelauge“ zeugen sie davon, wie stark Jeanne Mammen unter den politischen Verhältnissen und den damit einhergehenden Denunzierungen und Widersprüchlichkeiten litt. Ihr Überleben sicherte sie sich durch Gelegenheitsarbeiten für das „Reichsinstitut für Puppenspiel“ und Schaufensterdekorationen von Modegeschäften am „Tauentzien“. Eine verborgene Einnahmequelle war der Verkauf ihrer Bilder durch ihren in die USA emigrierten Freund Max Delbrück.
Zu diesem neuen Lebensgefühl passte im Jahr darauf auch Mammens Beteiligung an der Gründung des Künstlerkabaretts „Badewanne“. Die Idee dazu hatten die Malerin Katja Meirowsky und ihr Mann, der Schriftsteller Karl Meirowsky. Die NS-Zeit hatte Katja in der Illegalität in Polen überlebt, während Karl 1938 nach London emigrieren konnte. 1947 kehrte er nach Berlin zurück. Es war vor allem seinen guten Kontakten zur US-Militärregierung zu verdanken, dass im Sommer 1949 das Künstlerkabarett im legendären Femina-Palast (heute Ellington Hotel) in der Nürnberger Straße eröffnen konnte.
Das Atelier war ein häufiger Treffpunkt, um zu diskutieren und gemeinsam kreativ zu arbeiten. Es war Refugium und Inspiration. Jeanne Mammens langjähriger Freund Max Delbrück, der im Oktober 1975 zu Besuch nach Berlin gekommen war, fasste ein letztes Mal seinen Eindruck zusammen: „Wir besuchten sie am 30. Oktober abends, sehr ausführlich und gemütlich, in ihrer Zauberbude. Mit dem letzten Bild, fast ganz in Weiß, auf der Staffelei. Wir wussten, dass es der letzte Besuch sein würde, sie wohl auch, obwohl man ihr die Diagnose (Lungenkrebs) nicht gesagt hatte. Ich kam noch einmal am nächsten Tag, wir scherzten, ich über meinen Haarausfall ‚Der Mensch wird langsam mangelhaft…‘, sie gab gleich, mit inniger Freude zurück: ‚…Die Locke wird dahin gerafft‘. Abschied, im pianissimo des höchsten Alters“. Nur wenige Monate nach diesem Besuch starb Jeanne Mammen am 22. April 1976 in ihrem 86. Lebensjahr in Berlin.
Unvergessliche „Zauberbude“
Das Besondere der Begegnungen an diesem Ort veranlasste die Freund:innen nach dem Tod der Künstlerin, alles daran zu setzen, das Atelier so zu erhalten, als wäre Jeanne Mammen nur eben für eine Besorgung außer Haus und als würde sie jeden Moment wieder zur Tür hereinkommen. Jedes Bild, jedes liebevoll von eigener Hand gestaltete Möbel, kleiner Krimskrams mit großen Geschichten in den Regalen und eine Bibliothek mit deutschen Klassikern wie Goethe und aufgeklärten Franzosen wie Rimbaud sollte am jeweiligen Platz bleiben. Sie beschlossen, das Atelier, diese „Zauberbude“, in ihrem Sinn zu erhalten und damit Jeanne Mammens künstlerisches Werk vor dem Vergessen zu bewahren. Sie gründeten die Jeanne-Mammen-Gesellschaft und initiierten zahlreiche Ausstellungen und Veröffentlichungen zu Mammen selbst und zu ihrem Freund:innen-Kreis. 1997 erschien das umfangreiche Werkverzeichnis.
Lothar Klünner, ein enger Freund Jeanne Mammens, beschrieb 1991 die konservierte Aura: „Ein kontrastreiches, energiegeladenes Ambiente schlägt den Besucher in Bann. Er verspürt einerseits steigende Erwartung und Spannung – andererseits liegt hier so viel Geduld in der Luft. Ja, aus den Wänden sintert noch immer das Leben; ich behaupte, in seiner kostbarsten, sublimsten Form, philosophisch geklärt als Weisheit. Dieses Atelier zog die Summe aus Jeanne Mammens schöpferischer Existenz. Es ist ihr Gesamtkunstwerk.“
Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen, in denen die Erinnerung an eine große Berlinerin wachgehalten wurde und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland am authentischen Ort über Jeanne Mammen forschen konnten. Viele Ausstellungen fanden seither statt, in denen die Künstlerin neben männlichen Kollegen wie George Grosz oder Otto Dix ihren Platz hatte. 2017 brachte eine große Retrospektive in der Berlinischen Galerie Jeanne Mammen endgültig einem breiten Publikum wieder in Erinnerung. Seither ist das Interesse an der Künstlerin, an Leihgaben originaler Objekte oder an Führungen durch ihr Atelier ungebrochen. Zum Schutz der Objekte war deren Verbleib im Atelier jedoch nicht länger zu verantworten. Deshalb wurden sie 2018 in das Spandauer Zentraldepot des Stadtmuseums Berlin überführt. 2019 wurde das Atelier unter der Leitung des Stadtmuseums Berlin als Gesamtkunstwerk der Berliner Künstlerin Jeanne Mammen rekonstruiert und öffentlich zugänglich gemacht.