Sommerkleid (1961)


Was hat ein Stück Textil mit Mauerbau und Mauerfall zu tun? Die Geschichte dieses Sommerkleides zeigt, wie sehr das Leben der Menschen mit dem Lauf der Weltgeschichte verstrickt ist.

von Heike-Katrin Remus
Sommerkleid der Berlinerin Rosemarie Fees, Chemiefaser, Hersteller unbekannt
© Stadtmuseum Berlin | Foto: Christina Dill-Friedrich

Im Sommer des Jahres 1961 kaufte sich die Biologie-Studentin Rosemarie Fees ein neues Kleid. Sie studierte in Marburg, war aber eine geborene Berlinerin. Das Kleid entsprach der neuesten Mode, schlicht und gerade geschnitten, ärmellos. Ein Bindegürtel betonte die Taille. Der Perlonstoff war sehr modern. Mit den frischen weißen Punkten auf rotem Grund wirkt es sehr sommerlich.
 
Rosemarie Fees wollte einen Teil der Semesterferien in Berlin verbringen und ihr neues Kleid, kombiniert mit hochhackigen weißen Schuhen, zu einem Spaziergang tragen – vom Boulevard Unter den Linden durch das Brandenburger Tor bis in den Tiergarten hinein. Doch ihr Berlin-Besuch stand unter schlechten Vorzeichen.

Der Morgen des 13. August 1961 an der Grenze
© Story Press | Foto: Jochen Clauss

Sperren aus Straßenpflaster und Stacheldraht

Der 12. August 1961 war ein Sonnabend. Berlin war in der Wochenendruhe, als der DDR-Staatsrats-Vorsitzende Walter Ulbricht in der Nacht zum Sonntag den Befehl erteilte, die Sektorengrenzen Ost-Berlins zu schließen. Der Einsatz wurde von Erich Honecker geleitet, damals Sekretär für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED. Neben Kräften der Volks- und Grenzpolizei wurden auch die paramilitärischen Kräfte der Betriebskampfgruppen mobilisiert.
 
Mehr als 10.000 Mann errichteten Sperren aus Straßenpflaster und Stacheldraht, unterstützt von Soldaten der Nationalen Volksarmee und der Sowjetarmee aus dem Umland. Die Verkehrsadern von S- und U-Bahn wurden mit Ausnahme des Bahnhofs Friedrichstraße durchtrennt. Nur dreizehn Übergänge zwischen West und Ost blieben als „Checkpoints“ geöffnet. Das Brandenburger Tor, das Rosemarie Fees auf ihren Spaziergang durchqueren wollte, war ursprünglich ebenfalls als Übergang geplant. Am 14. August wurde es jedoch versperrt. Zahlreiche Fotodokumente zeigen die Betroffenheit der Menschen, die dem Mauerbau hilflos gegenüberstanden.

„Private Nachwendefeier“

Rosemarie Fees lebte nach ihrem Studium in West-Berlin, gründete eine Familie und ging ihrer Arbeit nach. Über all die Jahre bewahrte sie das Kleid auf und trug es gelegentlich. Bewegt verfolgte sie die Ereignisse des Mauerfalls am 9. November 1989. Im Jahr danach genoss Rosemarie Fees in diesem Kleid dann ihre „private Nachwendefeier“, wie sie es selbst ausdrückte: Sie holte den Spaziergang nach, der ihr fast dreißig Jahre lang verwehrt gewesen war.
Wartende am Grenzübergang Brandenburger Tor, 1990
© Stadtmuseum Berlin | Foto: Leonore Schwarzer

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