Wir sind Weltbürger:innen
Als Direktor der Stiftung Stadtmuseum Berlin zeichnet sich Paul Spies verantwortlich für das Konzept der Berlin Ausstellung, die im ersten Stock des Humboldt Forums gezeigt wird. Im Interview spricht der 1960 geborene Kunsthistoriker über die vielen Schnittstellen, die zwischen Berlin und dem Rest der Welt bestehen.
Herr Spies, die Berlin Ausstellung untersucht die Schnittstellen zwischen dem Lokalen und dem Globalen. Würden Sie sagen, dass Berlin eine Weltstadt ist?
In Berlin hat man gegenüber diesem Begriff ein ambivalentes Verhältnis. Viele denken, dass Berlin im Kontext anderer Weltstädte – Moskau, Tokio oder Los Angeles – nicht mithalten könne. Berlin ist nicht wie New York: Es gibt hier keine Wolkenkratzer und keine Ghettos. Berlin ist auch nicht so zentralistisch wie Paris. Man fährt hier nicht morgens zur Arbeit ins Zentrum und abends zum Wohnen in die Randgebiete. Das hat unter anderem damit zu tun, dass das heutige Berlin erst 1920 aus dem Zusammenschluss verschiedener Bezirke entstanden ist. Berlin ist ein Konglomerat aus Kleinstädten. Doch das Hadern mit dem Begriff „Weltstadt“ ist auch Ausdruck einer Berliner Bescheidenheit und einer Verlegenheit gegenüber der eigenen Geschichte. In Berlin wird man geradewegs nervös, wenn jemand das Wort „Weltstadt“ in den Mund nimmt.
Was wäre denn typisch für eine solche Weltstadt?
Eine Weltstadt ist für mich ein Ort, in dem die Welt auf ganz unterschiedliche Weise anwesend ist. In Berlin zum Beispiel leben gut zweihundert verschiedene Nationalitäten zusammen. Andersherum hat Berlin auch viel Einfluss auf die anderen Länder in der Welt. Das politische Berlin ist eines der wichtigsten Mitglieder der Europäischen Union. Was in Berlin entschieden wird, das betrifft die Weltpolitik. Zugleich sind aber auch die Bewohner:innen der Stadt mit den Bewohner:innen anderer Länder und Städte verbunden. Wenn man diese Beziehungen genauer unter die Lupe nähme, so erhielte man ein riesiges Netzwerk globaler Verknüpfungen.Wir reden jetzt vor allem über die Gegenwart. Doch inwieweit ist auch die Geschichte Berlins wichtig für die Geschichte der Welt?
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein war Berlin eine der größten Städte der Welt – eine Industriestadt, die über Im- und Exportgeschäfte mit dem ganzen Globus verbunden war. Zudem ist Berlin bis zum Ende des Ersten Weltkriegs eine Kolonialmacht gewesen. Man hatte hier also intensive Verbindungen zu Ländern in Afrika und Asien. Doch dann kam der Zweite Weltkrieg: Damals wurde die Stadt zerstört und geteilt. Vermutlich kann man erst mit dem Jahr 1989 wieder von der Renaissance der Weltstadt sprechen. Mittlerweile ist die Einwohnerzahl wieder auf vier Millionen hochgeschnellt. Eigentlich ist das ein Wunder.
Wie erklären Sie sich das?
Paul Spies: Man kann das nicht erklären. Vielleicht liegt hier etwas in der Luft: ein Geist, ein „Genius loci“. Er hat in den letzten Jahren all die Start-up-Unternehmen in die Stadt gebracht – die digitalen Medien und die „Creative Class“. Das hat etwas mit einer Atmosphäre von Freiheit und Innovation zu tun. Und es liegt an einer Tugend, die nicht typisch ist für andere deutsche Städte: Man darf in Berlin scheitern. Aus dieser Freiheit zum Misserfolg entstehen große Innovationen.Sie erwähnten eben die Kolonialgeschichte. Inwieweit ist diese auch in BERLIN GLOBAL sichtbar? Inwieweit etwa ist ein Besuch der Berlin Ausstellung mit einem Besuch der Ethnologischen Sammlungen in den oberen Etagen verknüpft?
Die Berlin Ausstellung zeigt keine ethnologischen Objekte, kann aber dennoch in ihren unterschiedlichen Teilaspekten globale Zusammenhänge wie Kolonialismus und Postkolonialismus thematisieren. Wir laden Source-Communities dazu ein, der Berlin Ausstellung ihre eigenen Geschichten hinzuzufügen. Auf den oberen zwei Etagen im Humboldt Forum schaffen zusätzliche Räume die Möglichkeit für Wechselausstellungen. Zusammen mit den Kurator:innen der Ethnologischen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin können wir hier interessante Ausstellungsformate entwickeln.
In einer solchen Kooperation wird man etwa ein Ritualobjekt aus Nordamerika nicht mehr nur im Kontext seiner Funktion innerhalb einer indigenen Kultur betrachten, man wird auch danach fragen, wie dieses Objekt nach Berlin gekommen ist.
Es wird also darum gehen, ein Verständnis für die Zusammenhänge zwischen der eigenen Geschichte und dem vermeintlich Fremden zu entwickeln. Denn letztlich sind wir alle Weltbürger:innen – Bürger:innen, für die sich Lokalität und Globalität nicht mehr ausschließen sollten. Zu einer solchen Weltbürgerschaft will das Humboldt Forum befähigen.
Hintergrund
Das Interview ist am 6. Mai 2020 zuerst im Online-Magazin des Humboldt Forums erschienen sowie auf der Ausstellungswebsite BERLIN GLOBAL.