In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Zum ersten Mal seit 1961 ist die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin wieder offen.
© Stadtmuseum Berlin | Foto: Bernd Horst Sefzik

Der Mauerfall in Fotografien von Bernd Horst Sefzik

Der Ost-Berliner Fotograf erlebte die Ereignisse der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 mit. In einer Bilderserie hielt er sie fest, und ein Jahr nach dem Mauerfall beschrieb er sie in seinen eigenen Worten.

„Als ich am späten Abend des 9. November 1989 nach einem Fototermin nach Hause fuhr, fiel mir der ungewöhnlich starke Verkehr in den Straßen von Berlin auf. Alle Autos strebten in eine Richtung, zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Dort stockte bald aller Verkehr, die Autos blockierten in Dreierreihe jedes Weiterkommen. Ich stieg aus, ging zu Fuß weiter und hörte und sah schließlich etwas Unfaßbares. Die Grenze nach Westberlin war offen! Vorbei an Grenzsoldaten, die es bald aufgaben, Ausweise zu kontrollieren oder gar zu stempeln, flutete eine gewaltige Menschenmenge in beide Richtungen: sie riß auch mich mit.“

„Alles, was in dieser Nacht passierte, fand seinen Ausdruck in dem immer wiederkehrenden Wort ‚Wahnsinn‘. Dieser eine Begriff drückte alleine aus, was ein jahrzehntelang getrenntes Volk in sich aufgestaut hatte: Wut über nicht wieder gut zu machende Familientragödien, Jubel über noch unfaßbare Freiheit, Trauer über verlorene Jahre. Ein Taumel der Gefühle im Blitzlicht. Erste Schritte aufeinander zu. Es gab einige, die noch in dieser Nacht die Koffer packten und endgültig nach dem Westen gingen, weil sie der plötzlichen Grenzöffnung nicht trauten. Die meisten aber liefen durch volle, fremde Straßen und merkten nach Stunden, als es gegen Morgen hin kühl wurde und der Rauch des von Feuerwerkskörpern schwer in der Luft lag, wie fremd sie trotz des gegenseitigen Zuprostens und der Wahllosen Umarmungen in diesem Teil der Stadt waren. Sie liefen durch eine andere Welt.“

„Wenn ich mir die Bilder dieser Zeit ansehe, kommt es mir vor, als wäre längere Zeit als nur ein Jahr vergangen. Bei allen widersprüchlichen Gefühlen waren die Gesichter offen. Es gab zornige, aber noch keine aggressiven Gesten und Minen. Mir sind diese Gesichter lieber als jene, die ich später immer wieder sah: die der trunkenen, zerstörerischen Menge in der Silvesternacht am Brandenburger Tor, die der verzweifelten, haßerfüllten Demonstranten, die unter schwarzen Fahnen den Erhalt ihrer Arbeitsplätze forderten.“

„Unser Land, besser gesagt: unsere Länder sind vereinigt worden. Die wirkliche Vereinigung aber müssen wir noch gemeinsam bewältigen. Was wissen wir voneinander, von unseren Empfindungen, und Empfindlichkeiten, von unseren Ängsten und dem, was sie verursachte?“

„Kurze Zeit nach der Grenzöffnung, die anfangs noch nicht freien Reiseverkehr, sondern nur kontrollierten, gelenkten Durchlaß mit sich brachte, hatte ich Gelegenheit, die noch völlig erhaltene Mauer rings um Berlin zu fotografieren. Wer die Berliner Mauer nicht kennt, weiß nicht, daß sie eigentlich aus zwei gleich hohen Betonwänden bestand. Dazwischen befand sich, mehrere hundert Meter breit, für jeden Zivilisten gesperrt, das „Niemandsland“, ein asphaltierter Kolonnenweg für die Grenzfahrzeuge, gesäumt von Wachttürmen, sowie der mit Herbiziden behandelte, völlig unkrautfreie, sauber geeggte und jeden Schritt verratende „Todesstreifen“. Diese Schneise, rücksichtslos durch die Stadt geschlagen, zerschnitt alle Baulichkeiten, verlief mitten durch Häuser und Straßen, durchquerte Betriebsgelände ebenso wie Friedhöfe, Bahnanlagen und Wasserläufe.“

„Dieses ‚Niemandsland‘ zwischen Mauern bin ich in voller Länge von 168 Kilometern angelaufen oder – gefahren, und soweit ich weiß, war ich der erste Fotograf, der das tun  durfte. Meine Eindrücke wechselten zwischen Erschrecken und Entsetzen, es gab Momente, wo kein Foto ausdrücken konnte, was ich empfand. Zum Beispiel, als ich den U-Bahnhof Potsdamer Platz betrat (der, durch seine unterirdische Lage geschützt, die Jahre überdauert hatte) und sich meine Fußabdrücke im millimeterstarken Staub markierten. Sie waren die einzigen frischen, menschlichen Spuren in einer erstarrten Welt. Hinter zugemauerten Eingängen fand ich alles so, wie es vor fast drei Jahrzehnten, offenbar in Eile, verlassen worden war: einen umgekippten Stuhl, eine Zeitung vom August 1961, Werkzeug …“

Bernd Horst Sefzik, 1990

Buchtipp

Gut : Gegangen
Der Abzug der sowjetischen | russischen Streitkräfte 1990 bis 1994

Herausgegeben von Michael Daxner, Gerd Harms, Axel von Hoerschelmann, Jann Jakobs und Birgit-Katharine Seemann. Mit Fotografien von Bernd Horst Sefzik aus der Sammlung des Stadtmuseums Berlin.
Softcover, 244 Seiten, 1. Auflage 2024, Jürgen Strauss Medien, ISBN 978-3-943713-39-8, Preis: 14,90 Euro

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