Um Berlin (Hintergrund)
Nicht nur Fotografien zeugen von Berlins Aufstieg zur Metropole im frühen 20. Jahrhundert. Auch in Zeichnungen und Grafik finden sich vielfältige Zeugnisse für die rasante Entwicklung der Stadt. Zugleich bieten diese Arbeiten faszinierende Einblicke in eine Epoche künstlerischen Aufbruchs.
In der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Darstellung des Stadtbildes ein Schwerpunkt künstlerischen Schaffens in Berlin. Besonders die Sehenswürdigkeiten der preußischen Metropole, allen voran das Berliner Schloss, waren beliebte Motive. Das nähere Umland präsentierte sich in den Darstellungen hingegen noch in vorindustrieller Idylle. Ab etwa 1830 vereinzelt aufragende rauchende Schornsteine wurden von der Kunst allenfalls als malerische Zeichen in der Landschaft wahrgenommen.
Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Situation ein völlig andere. Das Gebiet der historischen Kernstadt war zu großen Teilen umgestaltet worden, ein Ring aus Mietskasernenvierteln legte sich um sie. Der Maler und Zeichner Julius Jacob wurde zu einem Künstler-Chronisten des verschwindenden „Alt-Berlin“. Er dokumentierte aber auch das Neue, beispielsweise die Anlagen der Stadtbahn an der Jannowitzbrücke und den im Umbruch befindlichen Potsdamer Platz. Jacob erfasste wie Lesser Ury und andere, die der Künstlervereinigung Berliner Secession nahestanden, das Wesen der sich im steten Wandel befindlichen modernen Großstadt. Darin folgten sie den künstlerischen Auffassungen des französischen Impressionismus.
Die größten und nachdrücklichsten Veränderungen erlebten aber die Vorort-Gemeinden und die sie umgebende Landschaft, die innerhalb weniger Jahrzehnte kaum noch wiederzuerkennen waren. Zu den hervorstechendsten Merkmalen dieses Wandels zählten die Verlagerung von Industrie aus dem Zentrum Berlins in die nördliche und südöstliche Umgebung, die aus dem Boden gestampften Vorstädte mit ihren Wohnvierteln sowie die Villenkolonien für die Wohlhabenden im Westen. Ein Motor dieser Entwicklung war die Eisenbahn, die – ausgehend von den Berliner Kopfbahnhöfen – wie ein Spinnennetz das Umland durchzog.
Der Schriftsteller Georg Hermann schrieb im Vorwort zu dem Mappenwerk: „Und dann wieder gut ein weiteres Jahrzehnt war ich immer in den neuen Vierteln, draußen am Rand, an der Lisière (Anm. d. Red.: am Waldrand), in den Vororten. Zehnmal wohl habe ich dasselbe Bild sich wiederholen sehen. Und stets war es ein wenig anders. Stets hat sich das Gesicht der Straßen, der Menschen, des Verkehrs etwas verändert und verschoben. Und noch bin ich nicht satt geworden, diesem Spiel zu folgen. Ja, es ist eigentlich für mich heute das Sinnbild dessen, was mir als Berlin erscheint. Und wenn ich irgend wo anders bin, und ich denke an Berlin zurück, dann denke ich nicht an Schloß und Linden oder an all die Dinge, die man als Wahrzeichen von Berlin empfindet, sondern draußen an meine Gegend denke ich, an irgend etwas, das im vorigen Jahr noch Bauplatz war und in diesem Jahr schon eine Häuserreihe mit weißen geteilten Fenstern und mit runden, goldumgitterten Balkons trägt. (…) Alles daran ist neu, reizvoll und unentdeckt. Nichts ist abgespielt und langweilig. Und das Neue, Reizvolle und Unentdeckte, das ist es auch, was uns (…) jahraus, jahrein draußen an unseren Vorstadtrand fesselt.“
Zu den noch von der Berliner Secession beeinflussten impressionistischen Darstellungen gesellen sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren expressive Tendenzen, wie sie überwiegend von den jüngeren Künstler:innen in der 1914 gegründeten Freien Secession vertreten wurden. Im weiteren Verlauf der 1920er Jahre überwiegen dann realistische Sichtweisen, die man unter dem Dach der Neuen Sachlichkeit zusammenfassen kann. Diese Entwicklung lässt sich auch in der jungen Kunstform des Plakats erkennen, von der in unserer Online-Präsentation des Foto-Grafischen Kabinetts mit dem Titel „Um Berlin“ einige Beispiele vertreten sind.