Um Berlin, Teil 4
Bis 1920 gab es rund um Berlin sechs kreisfreie Städte mit eigener städtischer Infrastruktur. Jede von ihnen hatte ihren eigenen, unverwechselbaren Charme.
Vom Charme der Vorstädte zeugt Hans Baluscheks Ansicht des alten Bahnhofs Schöneberg. Seine sozialkritisch motivierte „Vorstadtdirne“ von 1923 weist auch auf das Laster hin, das sich um Berlin etablierte. Eine Straßenszene von Karl Holtz aus demselben Jahr vermittelt nicht nur pulsierendes Großstadtleben, sondern auch einen Eindruck von politischen und sozialen Umbrüchen. Betont ruhiger und bürgerlicher ging es in den Villenkolonien und Vorort-Gemeinden zu. Während Ludwig Meidner die Kirche auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz in Friedenau 1913 fast ekstatisch expressiv auflöst, schildert Paul Kuhfuss um 1930 eine winterliche Pankower Straße mit einem gemäßigt expressiven malerischen Ausdruck. Theo von Brockhusen gibt seiner „Vorstadt“, wiederum von 1913, noch ein rein dörfliches Gepräge. Georg Tapperts gleichnamiges, zwei Jahre später entstandenes Werk zeigt lediglich einen einsamen Verkaufspavillon in weiter Landschaft. Der Künstler weist hier mit ironischem Unterton auf die vielen, nicht selten skurril anmutenden Aspekte hin, die die Veränderungen am Stadtrand mit sich brachten.
Der (alte) Stadtbahnhof Schöneberg hatte einen der für Berlin typischen Mittelbahnsteige mit gusseisernen Stützen und flachem Satteldach. Das um 1900 errichtete, repräsentative Empfangsgebäude an der Sedanbrücke (heute Julius-Leber-Brücke) ist in Baluscheks Darstellung am Ende des Bahnsteigs erkennbar. Der Name des Bahnhofs ging 1932/33 auf den neuerbauten Kreuzungsbahnhof von Wannsee- und Ringbahn über, er selbst erhielt nun den Namen Kolonnenstraße. Nach Kriegszerstörung und zwischenzeitlichem Abbau entstand annähernd am alten Standort von 2006 bis 2008 der heutige S-Bahnhof Julius-Leber-Brücke.
Die Lithografie zeigt eine Straßenszene vom belebten Wittenbergplatz im Ortsteil Schöneberg des heutigen Bezirks Tempelhof-Schöneberg. Angelegt worden war dieser Platz um 1890 inmitten des seit dem späten 19. Jahrhundert erblühenden Berliner Westen. Eine Straßenlaterne beleuchtet die nächtliche Szenerie mit einer kaum differenzierten Menschenmenge, die sich an einem Bauzaun entlangbewegt. Dieser verdeckt vermutlich den Umbau des U-Bahnhofs Wittenbergplatz in den Jahren 1910 bis 1912.
Die Radierung stellt eine Situation im Bezirk Charlottenburg (heute Charlottenburg-Wilmersdorf) dar. Am Ufer eines kanalartigen Gewässers sind Schleppkähne vertäut, im Hintergrund Fabrikations- und Lagerhallen sichtbar, überragt von wenigen Schornsteinen. Der Tegeler Weg führt in seinem längsten Teil gegenüber dem Schlosspark Charlottenburg am Spreeufer entlang. Dies würde einen Blick auf Industrieanlagen allerdings ausschließen. Möglicherweise handelt es sich um den Abzweig zum Westhafenkanal in seinem nördlichen Teil, was die Anlagen des Westhafens sichtbar machen würde. Das Motiv vereint Elemente der Stille mit denen großstädtischer Betriebsamkeit – ein in Berlin nicht selten anzutreffender, nur scheinbarer Gegensatz.
Karl Holtz, Berliner Straßenszene
Das von großstädtischer Anonymität und Unrast gekennzeichnete Stadtbild hätte überall in Berlin „stattfinden“ können – am Rand des quirligen Zentrums oder in den Vorstädten. Symbolisch weisen ein Plakat für die KPD-Zeitung „Rote Fahne“, an die Wände geschmierte Hakenkreuze, eine soeben gehisste Fahne in den Farben des untergegangenen Kaiserreichs und eine patrouillierende Militärstreife auf die gespannte Ruhe in der jungen, von Krisen geschüttelten Weimarer Republik hin. Eine topografische Verortung des Motivs war vom Künstler nicht beabsichtigt; Reklameschilder und Straßenbahnbeschriftungen sind fiktiv.
Pankow entwickelte sich von einem ursprünglich mittelalterlichen Angerdorf an der Panke gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Ort der Sommerfrische für die Stadtbevölkerung. Damit einher gingen der Ausbau der Infrastruktur und die Anlage eines neuen Straßensystems. Städtischen Charakter weisen in der gemäßigt-expressiven und farbintensiven Darstellung von Paul Kuhfuss die Wohnhäuser auf, wenngleich die winterliche Stimmung, die zahlreichen Straßenbäume und vereinzelte Vorgärten doch eher an einen ländlichen Vorort denken lassen.
Friedenau ging nicht aus einem historischen Dorfkern hervor, sondern aus einer ab 1871 planmäßig angelegten Villenkolonie. 1920 wurde die Gemeinde Bestandteil des Bezirks Schöneberg (heute Tempelhof-Schöneberg). Ludwig Meidner hatte im Entstehungsjahr des Bildes ein Atelier in der Wilhelmshöher Straße 21, in unmittelbarer Nähe der heute noch existierenden Kirche. Das vorliegende Blatt gehört in eine Reihe von Arbeiten aus den Jahren 1913 bis 1916, die in splittrigen, wankenden Formen – also in bewusster Abkehr von den künstlerischen Auffassungen der Gruppe „Berliner Secession“ – ein Zerrbild der Stadt spiegeln, dabei aber immer noch von der konkreten topografischen Situation ausgehen.
Tapperts Bild zeigt einen einsamen Verkaufspavillon inmitten einer unerschlossenen Landschaft. Das kleine Bauwerk steht in seiner verspielten Gestaltung in einem gewissen Kontrast zu dem „Nichts“, das es umgibt. Die Erschließung des Berliner Umlandes brachte nicht selten auch skurril anmutende Motive hervor. Der Pavillon mag als Schlüssel für die Aneignung der zukünftigen Vorstadt durch Erholungssuchende, an Mietwohnungen oder an Eigentum Interessierte verstanden werden.