Um Berlin (Teil 2)
Schornsteine symbolisieren das rasche Wachstum der Industrie vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit wurden zahlreiche Fabriken aus dem Zentrum Berlins in das Umland verlagert. Ermöglicht wurde dies durch die vielen schiffbaren Flüsse, Kanäle und Seen sowie durch das bereits vorhandene Eisenbahnnetz.
Ernst Ludwig Kirchner skizziert in kraftvollen Strichen eine Eisenbahnunterführung an der Wannseebahn. Willy Dzubas dokumentiert mit seiner Darstellung des U-Bahn-Baus am Bahnhof Hermannplatz in Neukölln eines der großen Berliner Verkehrsprojekte der 1920er Jahre. Gleich viermal – in den Arbeiten von Hans Baluschek, Lyonel Feininger, Werner Hofmann und Leopold Thieme – erscheinen Gasometer als Zeugnisse der Energieversorgung. Während Feiningers Zeichnung die moderne Technik in expressiver Weise als Zeichen des Fortschritts feiert, dokumentiert Thieme die Gasometer als beinahe furchteinflößende Giganten. Diese stählernen Ikonen des Industriezeitalters sind heute bis auf wenige Ausnahmen verschwunden, wie auch die stadtbildbeherrschenden „Schornsteinwälder“, die Artur Pfeifer 1918 in Lichtenberg zeichnete.
Berliner Gasometer
Lyonel Feininger, Gasometer in Schöneberg (1912)
Die Zeichnung „Gasometer in Schöneberg“ ist eine Vorarbeit für Feiningers im selben Jahr entstandenes Ölgemälde, das sich ebenfalls in der Sammlung des Stadtmuseums Berlin befindet. Der Künstler erfasst in seiner expressiven Darstellung die Schöneberger Gasometer – von denen einer bis in die heutige Zeit erhalten geblieben ist – und die davor fahrende Dampflokomotive als Symbole für das pulsierende Leben in der Großstadt. Feiningers Zeichnung ist eine direkte Reaktion auf die im Entstehungsjahr 1912 in Herwarth Waldens Galerie „Der Sturm“ auftretenden Futuristen. Diese propagierten die Schönheit der Technik, ihre Dynamik und Lebendigkeit.
In mehreren überlieferten Zeichnungen hielt Thieme die baulichen Veränderungen und das Wachstum Berlins und seiner Vorstädte kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs fest. Dazu gehört auch das Gelände der ehemaligen Gasanstalt Schöneberg, die 1871 zur Energieversorgung Schönebergs und der südlich der Spree gelegenen Viertel Berlins gegründet wurde. Bis 1913 entstanden die vier im Bild sichtbaren Gasbehälter, von denen die Bauwerke I und II 1944 zerstört und das Bauwerk III 1976 abgerissen wurden. Der Gasometer IV ist heute ein geschütztes Denkmal der Berliner Industriekultur und Wahrzeichen von Schöneberg. In seinem Sockel beherbergt das Bauwerk seit 2009 eine Veranstaltungskuppel.
Ein erstes Charlottenburger Gaswerk wurde 1861 am Charlottenburger Ufer in Betrieb genommen. Die 1991 stillgelegte städtische Gasanstalt II entstand von 1889 bis 1891. Sie nahm ursprünglich ein Gelände an Gauß- und Sickingenstraße beiderseits des Charlottenburger Verbindungskanals ein, nördlich begrenzt von der Bahntrasse zwischen den heutigen S-Bahnhöfen Jungfernheide und Beusselstraße. Werner E. A. Hoffmann verbindet in seiner Darstellung („Die Gasanstalt II in Charlottenburg“, siehe oben) eindrucksvoll für Berlin einst charakteristische Motive aus Verkehr und Industrie, so den von der Binnenschifffahrt viel genutzten Kanal, die frequentierte Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Spandau sowie den inzwischen längst verschwundenen Gasometer.
Kirchner gilt als innovativster Künstler unter den Mitgliedern der Künstlergruppe „Brücke“. Um 1912 fand er zu einem spezifischen Großstadtexpressionismus, der viele andere Kunstschaffende beeinflussen sollte. Mit Blick aus seinem im April 1914 bezogenen Atelier in der Körnerstraße 45 im damaligen Vorort Steglitz zeichnete er die Friedenauer Brücke über die Wannseebahn. In seiner Darstellung verbinden sich charakteristische Elemente der Stadtstruktur in einem konzentrierten Liniengeflecht.
Spandau, seit dem Mittelalter mit Stadtrecht ausgestattet und über lange Zeit ein traditioneller Militärstandort, entwickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Rüstungsindustrie. Am Beginn des 20. Jahrhunderts siedelte sich zudem mit den Siemenswerken (Siemensstadt) die Elektroindustrie an. Poesenecker fasst in seiner Spandau-Ansicht die von Schornsteinen überragte Stadtsilhouette im Hintergrund kurzerhand zusammen. Die hüglige Wiesen- und Kanallandschaft des Vordergrunds vermittelt eine Tristesse, die wenig von ihren zu vermutenden Reizen zeigt.