Industriegelände in Lichtenberg (1918), Aquarell mit Deckweiß von Artur Pfeifer (Lebensdaten unbekannt)
© Stadtmuseum Berlin

Schornsteine am Schienenstrang

von Andreas Teltow

Um Berlin (Teil 2)

Schornsteine symbolisieren das rasche Wachstum der Industrie vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit wurden zahlreiche Fabriken aus dem Zentrum Berlins in das Umland verlagert. Ermöglicht wurde dies durch die vielen schiffbaren Flüsse, Kanäle und Seen sowie durch das bereits vorhandene Eisenbahnnetz.

Ernst Ludwig Kirchner skizziert in kraftvollen Strichen eine Eisenbahnunterführung an der Wannseebahn. Willy Dzubas dokumentiert mit seiner Darstellung des U-Bahn-Baus am Bahnhof Hermannplatz in Neukölln eines der großen Berliner Verkehrsprojekte der 1920er Jahre. Gleich viermal – in den Arbeiten von Hans Baluschek, Lyonel Feininger, Werner Hofmann und Leopold Thieme – erscheinen Gasometer als Zeugnisse der Energieversorgung. Während Feiningers Zeichnung die moderne Technik in expressiver Weise als Zeichen des Fortschritts feiert, dokumentiert Thieme die Gasometer als beinahe furchteinflößende Giganten. Diese stählernen Ikonen des Industriezeitalters sind heute bis auf wenige Ausnahmen verschwunden, wie auch die stadtbildbeherrschenden „Schornsteinwälder“, die Artur Pfeifer 1918 in Lichtenberg zeichnete.

Tiefer Schnee (1918), Zeichnung (Deckfarben, farbige Kreiden) von Hans Baluschek (1870–1935)
© Stadtmuseum Berlin
U-Bahn-Bau am Hermannplatz (1926) Radierung von Willy Dzubas (1877–1947)
© Stadtmuseum Berlin
Das Blatt stammt aus dem 1926 in Berlin erschienenen Mappenwerk der Berliner Nordsüdbahn A. G. „Zur Eröffnung der Untergrundbahnverlängerung Neukölln“. Ab 1917 wurde mit dem Bau der heutigen U-Bahn-Linie U6 die Verbindung zwischen den nördlichen und südlichen Stadtteilen vorangetrieben. 1924 begannen am Bahnhof Belle-Alliance-Straße (heute Mehringdamm) Arbeiten für den Abzweig nach Neukölln. Im April 1926 konnte das Teilstück Hasenheide (jetzt Südstern) – Bergstraße (jetzt Karl-Marx-Straße) der heutigen Linie U 7 eröffnet werden. Die Radierung von Dzubas zeigt Bauarbeiten am Bahnhof Hermannstraße, der in Verbindung mit dem angrenzenden Kaufhaus Karstadt zu einem der prächtigsten des gesamten Berliner U-Bahnnetzes ausgestaltet werden sollte. 

In mehreren überlieferten Zeichnungen hielt Thieme die baulichen Veränderungen und das Wachstum Berlins und seiner Vorstädte kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs fest. Dazu gehört auch das Gelände der ehemaligen Gasanstalt Schöneberg, die 1871 zur Energieversorgung Schönebergs und der südlich der Spree gelegenen Viertel Berlins gegründet wurde. Bis 1913 entstanden die vier im Bild sichtbaren Gasbehälter, von denen die Bauwerke I und II 1944 zerstört und das Bauwerk III 1976 abgerissen wurden. Der Gasometer IV ist heute ein geschütztes Denkmal der Berliner Industriekultur und Wahrzeichen von Schöneberg. In seinem Sockel beherbergt das Bauwerk seit 2009 eine Veranstaltungskuppel.     

Ein erstes Charlottenburger Gaswerk wurde 1861 am Charlottenburger Ufer in Betrieb genommen. Die 1991 stillgelegte städtische Gasanstalt II entstand von 1889 bis 1891. Sie nahm ursprünglich ein Gelände an Gauß- und Sickingenstraße beiderseits des Charlottenburger Verbindungskanals ein, nördlich begrenzt von der Bahntrasse zwischen den heutigen S-Bahnhöfen Jungfernheide und Beusselstraße. Werner E. A. Hoffmann verbindet in seiner Darstellung („Die Gasanstalt II in Charlottenburg“, siehe oben) eindrucksvoll für Berlin einst charakteristische Motive aus Verkehr und Industrie, so den von der Binnenschifffahrt viel genutzten Kanal, die frequentierte Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Spandau sowie den inzwischen längst verschwundenen Gasometer.

Berliner Industrieanlage (um 1925), Zeichnung (Bleistift, Kreide, aquarelliert) von Karl Hubbuch (1891–1971)
© Stadtmuseum Berlin
Karl Hubbuch gehört zu den wichtigen Vertreter:innen der Neuen Sachlichkeit in der bildenden Kunst. Auch wenn er sich vor dem Ersten Weltkrieg und zu Beginn der 1920er Jahre nur relativ kurze Zeit in Berlin aufhielt, gelang es ihm doch, das Wesen der Stadt in zahlreichen Zeichnungen zu erfassen. Dazu gehört mit dem vorliegenden Blatt auch eine Industriedarstellung, eine in Details ausgeführte Skizze. Sie zeigt wahrscheinlich ein an einem Bahndamm gelegenes Gaswerk, dessen Gasometer im Mittelgrund hinter einem Schornstein erkennbar ist. Im Hintergrund künden ein Kirchturm und eine Kuppel von gewachsener Wohnbebauung. 
Die Eisenbahnüberführung (1914), Zeichnung (Tuschpinsel) von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938)
© Stadtmuseum Berlin

Kirchner gilt als innovativster Künstler unter den Mitgliedern der Künstlergruppe „Brücke“. Um 1912 fand er zu einem spezifischen Großstadtexpressionismus, der viele andere Kunstschaffende beeinflussen sollte. Mit Blick aus seinem im April 1914 bezogenen Atelier in der Körnerstraße 45 im damaligen Vorort Steglitz zeichnete er die Friedenauer Brücke über die Wannseebahn. In seiner Darstellung verbinden sich charakteristische Elemente der Stadtstruktur in einem konzentrierten Liniengeflecht.

Industriegelände in Lichtenberg (1918), Aquarell mit Deckweiß von Artur Pfeifer (Lebensdaten unbekannt)
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Lichtenberg, hervorgegangen aus einem mittelalterlichen Dorf östlich von Berlin, entwickelte sich ab dem späten 19. Jahrhundert zu einem bedeutenden Industriestandort mit sprunghaft wachsender Bevölkerung. 1908 erhielt die durch Eingemeindungen auch flächenmäßig wachsende Gemeinde das Stadtrecht. Der „Schornsteinwald“ in der Darstellung, Zeugnis einer einst ausgeprägten Industriekultur, ist spätestens in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung bis auf geringe Reste verschwunden.
Bei der Darstellung handelt es sich vermutlich um die Fabrikanlagen des um 1900 errichteten Kabelwerks Westend der Siemens & Halske A. G. mit angrenzenden Gebäuden in der späteren Spandauer Siemensstadt. Im Jahr 1897 hatte das Unternehmen ein großes, brachliegendes Gebiet nördlich der Spree um den Nonnendamm erworben, um seine im Berliner Stadtgebiet verstreuten Produktionsanlagen an einem Ort zu konzentrieren. In den Folgejahren entstanden zudem ausgedehnte Wohnanlagen für die hier beschäftigten Arbeiter, Angestellten und ihre Familien. Thiemes Motiv illustriert anschaulich die Randwanderung der Berliner Industrie um 1900.
Fabrikanlage am Berliner Stadtrand (1913), Federzeichnung von Leopold Thieme (1880–1963)
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